Prof. Dr. Bernhard Schwarz †
Rz. 32
Die Haftung nach § 75 AO greift nur ein, wenn ein — im Augenblick des Übergangs — lebendes und selbstständig lebensfähiges Unternehmen übereignet wird. Das gilt für die Übertragung sowohl des Gesamtunternehmens als auch eines Teilbetriebs. Diese beiden Alternativen des § 75 AO stehen selbstständig nebeneinander und schließen sich gegenseitig aus. Die Vorschrift geht ihrem Sinngehalt nach davon aus, dass der Erwerber aus dem lebenden Organismus Gewinne erwirtschaftet oder sonst Vorteile zieht, aus denen er die betrieblichen Steuerschulden begleichen kann (s. Rz. 1). Daraus folgt, dass er in der Lage sein muss, den Betrieb fortzusetzen (vgl. Rz. 18). Der Begriff der Übereignung enthält also ein auf die Fortsetzung des Geschäfts, d. h. auf die weitere Nutzung der in dem Geschäft steckenden wirtschaftlichen Kraft gerichtetes Moment. Eine Überschuldung des Unternehmens beim Veräußerer schließt — bei vorhandener Wirtschaftskraft — die Annahme eines lebenden und lebensfähigen Unternehmens grundsätzlich nicht aus. Allerdings ist zu beachten, dass ein lebendes Unternehmen eine gewisse Wirtschaftskraft enthält und dem Sinn der Vorschrift entsprechend Haftungsgrundlage sein kann.
Die Voraussetzungen müssen im Zeitpunkt des Erwerbs gegeben sein. Maßgebend für die Frage, ob die wesentlichen Grundlagen eines Unternehmens auf den Erwerber übergegangen sind, ist also der Zeitpunkt der Übereignung. Unschädlich für die Anwendung des § 75 AO ist es, dass das Unternehmen bzw. der Teilbetrieb in der Zeit zuvor erheblich geschrumpft ist, wenn nur die verbliebene Organisation lebensfähig ist. Sind dagegen vor dem Übergangszeitpunkt wesentliche Betriebsgrundlagen aus dem Unternehmen entfernt und ist damit die Lebensfähigkeit des Unternehmens beseitigt worden, so scheidet eine Anwendung des § 75 AO aus.
Rz. 33
Auf die tatsächliche Weiterführung und die dem Veräußerer unbekannte Absicht des Erwerbers, das Geschäft stillzulegen, kommt es abweichend von der Auslegung des Begriffs der Geschäftsveräußerung gem. § 1 Abs. 1a UStG (vgl. dazu Rz. 4a) nicht an, auch nicht auf die tatsächliche Gewinnerzielung nach dem Erwerb. Das hängt nämlich auch von dem Verwalten und dem Geschick des Erwerbers ab. Das Element der Übertragung der Quelle für die Steuerschulden fehlt allerdings, wenn das Unternehmen oder der gesondert geführte Betrieb in der dem Veräußerer bekannten Absicht erworben wird, das Geschäft aufzulösen und abzuwickeln, und diese Absicht auch verwirklicht wird. In diesem Fall greift die Haftung nach § 75 AO im Regelfall nicht ein. Auch wenn ein Sicherungsunternehmer ein Geschäft übernimmt, um es zur Befriedigung seiner Forderungen zu verwerten, ist der Fortsetzungswille nicht gegeben. Hier wird die im Geschäft steckende wirtschaftliche Kraft zerschlagen. Entsprechendes gilt für die Veräußerung eines Betriebs an eine Gemeinde zur Stilllegung, bevor die wesentlichen Betriebsgrundstücke zu Straßenbauzwecken enteignet werden. Die wirtschaftliche Kraft des Geschäfts bleibt jedoch erhalten und wird nur auf ein anderes Geschäft übergeleitet, wenn der Erwerb zum Zweck der Stilllegung aus Konkurrenzgründen erfolgt.
Rz. 34
Der Fortsetzungs- bzw. Nutzungswille ist auch gegeben, wenn der Erwerb zum Zweck der Weiterverpachtung oder Weiterveräußerung erfolgt, und sich in dem erwarteten Pachtzins bzw. Erlös die wirtschaftliche Kraft des Geschäfts niederschlagen soll. Für die Frage, ob ein lebender Betrieb übereignet worden ist, ist der Wert der Betriebsgegenstände nicht entscheidend. Auch ein überschuldetes Geschäft kann in Ausnahmefällen noch als lebender Organismus angesehen werden, wird allerdings im Regelfall wie im Fall der Ablehnung der Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse kein lebensfähiges Unternehmen mehr sein. Ebenso unerheblich ist, dass der Erwerber nach der Übernahme keine Gewinne erwirtschaftet hat, da das Betriebsergebnis auch durch persönliche Faktoren bestimmt wird.
Rz. 35
Die Stilllegung eines Geschäfts vor der Übertragung ist dann von Bedeutung, wenn das Geschäft hierdurch seinen Charakter als lebende, fortführungsfähige Wirtschaftseinheit verloren hat. Hierbei kommt es auf den tatsächlichen Zustand im Zeitpunkt der Übereignung an. Entscheidendes Kriterium ist das Ausmaß der Anlaufschwierigkeiten. Ist die wirtschaftliche Kraft des Unternehmens trotz des Stillliegens bestehen geblieben, so ist die Stilllegung für die Haftung ohne Bedeutung. Der Betrieb muss mit den vorhandenen Wirtschaftsgütern ohne wesentliche Neuaufwendungen aufgenommen werden können. Sind vor der Inbetriebnahme umfangreiche Instandsetzungsmaßnahmen zu tätigen, greift § 75 AO nicht ein. Die Dauer der Stilllegung muss ebenfalls berücksichtigt werden. Eine kurzzeitige Schließung wird i. d. R. unbeachtlich sein, während eine elf Monate dauernde Stilllegung wegen des veränderten Kundenkreises die Annahme eines lebenden Unternehmens oder gesondert geführten Betriebs ausschließen kann. Liegen ...