Rz. 4
Nach der Gesetzesbegründung zu dem wort- und intentionsgleichen § 25 VwVfG ist das moderne, rechts- und sozialstaatlich geprägte Verständnis der Verwaltung das einer bürgernahen Verwaltung. Die Vorschrift ist Ausdruck der Kooperationsmaxime. Die Rechtsverwirklichung des Beteiligten soll nicht an dessen Unkenntnis, Unerfahrenheit oder Unbeholfenheit scheitern. Der Amtsträger darf nicht "sehenden Auges" zulassen, dass der bei ihm vorsprechende Bürger Schaden erleidet, den der Amtsträger durch einen kurzen Hinweis, eine Belehrung mit wenigen Worten oder eine entsprechende Aufklärung zu vermeiden in der Lage ist. Der Amtsträger soll nicht nur "Diener des Staates", sondern auch "Helfer des Staatsbürgers" sein. Der im Verfahrensrecht ungewandte Beteiligte soll die gleiche Möglichkeit zur Durchsetzung seiner Rechte haben, wie der in diesen Fragen Erfahrene. Über die Förderung der Einzelinteressen der Beteiligten wird zugleich ein materiell-richtiges Besteuerungsergebnis angestrebt. Die Fürsorgepflicht aus § 89 Abs. 1 AO dient damit auch der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung und somit der Erfüllung des in § 85 AO formulierten Verwaltungsauftrags (Legalitätsprinzip).
Rz. 5
§ 89 Abs. 1 AO kommt in allen steuerlichen Verwaltungsverfahren zur Anwendung. Im Steuerstraf- und Bußgeldverfahren gelten die StPO und das OwiG. Für die aus der Vorschrift hervorgehenden finanzbehördlichen Pflichten werden unterschiedliche Termini verwandt. Während z. B. Söhn zwischen Beratungs- (S. 1) und Auskunftspflichten (S. 2) differenziert, spricht Seer von allgemeinen Betreuungs- (S. 1) und besonderen Verfahrensfürsorgepflichten (S. 2). Hier wird im Folgenden zwischen Hinweis- (S. 1) und Auskunftspflichten (S. 2) unterschieden.
2.1 Anwendungsbereich
Rz. 6
Die Hinweis- und Auskunftspflichten bestehen grundsätzlich nur gegenüber Beteiligten. Sie beziehen sich auf Sachverhalte in einem konkreten steuerlichen Verwaltungsverfahren. Vor der Einleitung eines Verwaltungsverfahrens obliegt der Finanzbehörde noch keine Hinweispflicht, nach Verfahrensabschluss findet § 89 Abs. 1 AO ebenfalls keine Anwendung mehr. Eine über das laufende Verfahren hinausgehende allgemein-abstrakte Beratungspflicht der Finanzbehörden besteht nicht. Da § 89 Abs. 1 AO nur steuerrechtliche Fragestellungen erfasst, müssen die Finanzbehörden insbesondere zu zivilrechtlichen Vorfragen keine Hinweise und Auskünfte erteilen.
Rz. 7
Die Finanzbehörden sind somit im Regelfall nicht verpflichtet, Dritten Hinweise oder Auskünfte zu geben. Nach ihrem Sinn und Zweck ist die Norm aber auch zugunsten Dritter anzuwenden, wenn sich diese in einer verfahrensmäßig mit dem Beteiligten vergleichbaren Lage befinden, z. B. wenn ein Dritter als Auskunfts- oder Vorlagepflichtiger in Anspruch genommen werden soll.
2.2 Hinweispflicht (§ 89 Abs. 1 S. 1 AO)
2.2.1 Allgemeines
Rz. 8
Die Hinweispflicht i. S. d. § 89 Abs. 1 S. 1 AO entsteht von Amts wegen. Es ist nicht erforderlich, dass der Hilfsbedürftige zunächst Kontakt mit der Finanzbehörde aufnimmt. Erfasst werden von ihr nicht nur die verfahrensrechtlichen, sondern auch die materiell-rechtlichen Rechte und Pflichten des Beteiligten.
Rz. 9
§ 89 Abs. 1 S. 1 AO ist eine Sollbestimmung. Die Finanzbehörde soll die Abgabe oder Berichtigung offensichtlich versehentlich oder aus Unkenntnis unterlassener bzw. unrichtig gestellter Erklärungen und Anträge anregen. Daraus folgt, dass die Finanzbehörde unter den in S. 1 genannten Voraussetzungen nur in atypischen Ausnahmefällen von einem Hinweis absehen darf. In allen anderen Fällen dürfte ihr Ermessen auf Null reduziert sein und regelmäßig eine Pflicht zur Anregung bestehen. Denn im Fall der Offensichtli...