Prof. Dr. Alexander Kratzsch
Rz. 12
Der gewöhnliche Aufenthalt findet sein Ende, wenn er weder nach S. 1 noch nach S. 2 mehr angenommen werden kann. Die Voraussetzungen des S. 2 entfallen bereits dadurch, dass der zusammenhängende Aufenthalt von mehr als 6 Monaten Dauer nicht nur kurzfristig unterbrochen wird. Vielfach wird jedoch in solchen Fällen weiterhin ein gewöhnlicher Aufenthalt bestehen, wenn die Voraussetzungen des S. 1 erfüllt sind. Das kann der Fall sein, wenn nach den Umständen darauf zu schließen ist, dass die Beziehungen im Inland bestehen bleiben. Nach den Umständen des Einzelfalls ist zu entscheiden, wann bei Auslandsaufenthalten ein nicht nur vorübergehendes Verweilen beendet ist. Wie bei der Prüfung des Bestehens eines gewöhnlichen Aufenthalts ist auch bei der Beendigung die tatsächliche Gestaltung entscheidend. Anders formuliert kommt es darauf an, ob die Umstände auf eine konkrete Rückkehrabsicht hindeuten. Verlässt jemand ein Gebiet somit in der Absicht, nicht mehr an diesen Ort zurückzukehren, gibt er den gewöhnlichen Aufenthalt auf. Gleiches gilt, wenn bei Abreise noch eine Rückkehrabsicht bestand, diese aber später aufgegeben wird; in diesem Fall endet der gewöhnliche Aufenthalt allerdings erst mit Aufgabe der Rückkehrabsicht. Bei der Bewertung der äußeren Umstände gilt: Je länger die Abwesenheit dauert, desto stärker müssen allerdings die Beziehungen zum ursprünglichen Aufenthaltsort ausgeprägt sein, damit ein gewöhnlicher Aufenthalt aufrechterhalten bliebt. Bei längerfristiger Abwesenheit reichen weder gelegentliche Besuche (z. B. bei Kindern: im elterlichen Haus) noch die Unterhaltung eines Postfachs, das Vorhandensein einer inländischen Versicherung oder die Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit. Insoweit sind 2 Fallgruppen bei Auslandsaufenthalten zu unterscheiden:
(1) |
Bei einem Auslandsaufenthalt von mehr als 6 Monaten kann zwar aus § 9 S. 2 AO ebensowenig die unwiderlegliche Vermutung abgeleitet werden, dass der gewöhnliche Aufenthalt im Inland beendet ist, wie bei einer Abwesenheit von weniger als 6 Monaten die Beibehaltung. Eine Abwesenheit von mehr als 6-monatiger Dauer kann jedoch als Anhaltspunkt dafür gewertet werden, dass kein gewöhnlicher Aufenthalt im Inland mehr besteht. |
(2) |
Bei einem Auslandsaufenthalt von mehr als einem Jahr besteht der gewöhnliche Aufenthalt im Inland nur ausnahmsweise fort. Da ein Aufenthalt im Inland regelmäßig nach Ablauf von 6 Monaten und in Sonderfällen nach Ablauf eines Jahres zum "gewöhnlichen" bestimmt wird, verdeutlicht die Wertung des Gesetzgebers in § 9 S. 2 und 3 AO, dass nach Ablauf der dort bestimmten Fristen grundsätzlich ein neuer "gewöhnlicher" Aufenthalt begründet wird. Es kann aber nur einen gewöhnlichen Aufenthalt geben, sodass folgerichtig der bisherige gewöhnliche Aufenthalt beendet wird. Nach der Rechtsprechung des BFH reichen zudem auch im Zusammenhang mit der Vorschrift des § 8 AO (Wohnsitz) bei von vornherein auf mehr als ein Jahr angelegten Auslandsaufenthalten selbst kurzzeitige Besuche und kurzfristige Aufenthalte zu Urlaubs-, Berufs- oder familiären Zwecken, die nicht einem Aufenthalt mit Wohncharakter gleichkommen und daher kein "zwischenzeitliches Wohnen" in der bisherigen Wohnung bedeuten, nicht aus, um die Aufrechterhaltung des Inlandswohnsitzes anzunehmen. Aus den Umständen des Einzelfalls kann sich jedoch auch bei längeren Aufenthalten das Andauern eines gewöhnlichen Aufenthalts im Inland nach § 9 S. 1 AO ergeben. |
Als Umstände werden die Gründe des Auslandsaufenthalts, die beibehalten oder aufgegebenen Bindungen zum Inland, die Häufigkeit oder das Fehlen von Besuchen im Inland und ähnliche Vorgänge heranzuziehen sein. Maßgebend ist dabei das Bestehen oder Nichtbestehen der Bindungen zum Inland. Bei den Ermittlungen ist also aus den Umständen auf die Absicht zur Rückkehr bzw. Nichtrückkehr zu schließen. Wenn der Stpfl. in verhältnismäßig kurzen Abständen immer wieder ins Inland zurückkehrt, weil er sich hier "zuhause" fühlt und die Abwesenheit nicht zu einer wesentlichen Lockerung des Bandes zwischen dem Stpfl. und dem Inland geführt hat, kann im Einzelfall der gewöhnliche Aufenthalt im Inland fortbestehen.
Bei einer länger als einem Jahr dauernden Abwesenheit entfällt jedoch in aller Regel ein gewöhnlicher Aufenthalt im Inland. Das gilt z. B. auch für Seeleute, die nur hin und wieder für kurze Zeit ins Inland zurückkehren und hier keinen Wohnsitz mehr haben.