Rz. 19

Die Vorschriften über die Durchbrechung der materiellen Bestandskraft stehen in besonderem Maß in einem verfassungsrechtlichen Spannungsfeld. Die Behörde hat beim Erlass von Verwaltungsakten sorgfältig und unter Beachtung der materiellen und formellen Vorschriften zu entscheiden. Daraus resultiert, dass der Stpfl. nach Ergehen eines (endgültigen) Steuerbescheids davon ausgehen kann, dass der Sachverhalt steuerlich abschließend geregelt ist; etwaige Fehler zulasten des Stpfl. kann dieser im Rechtsbehelfsverfahren geltend machen. Die nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist eingetretene formelle Bestandskraft trägt dem Bedürfnis des Stpfl. nach einer sicheren Grundlage für die weitere Tätigkeit Rechnung. Er kann darauf vertrauen, dass der formell bestandskräftige Verwaltungsakt die endgültige Regelung enthält. Vertrauensschutz und Rechtssicherheit erfordern damit eine möglichst uneingeschränkte Bestandskraft. Auf der anderen Seite ist das Verwaltungsverfahren letztlich Massenverfahren. Das betrifft in besonderem Maße das automationsgestützte Verfahren nach § 155 Abs. 4 AO, bei dem die Steuerfestsetzung im Wesentlichen auf die Steuererklärung gestützt wird und nur sehr eingeschränkt Überprüfungen sowie Plausibilitätsprüfungen vorgenommen werden. Fehler sind in einem solchen Massenverfahren unvermeidbar. Dann erfordern aber die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung (Richtigkeit der Besteuerung) und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, dass nach Eintritt der formellen Bestandskraft noch verbliebene Fehler in der Steuerfestsetzung korrigiert werden können und der Verwaltungsakt an die tatsächliche materielle Rechtslage angepasst werden kann. Vertrauensschutz und Rechtssicherheit einerseits, Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung andererseits stehen daher in einem Spannungsverhältnis zueinander. Dieses Spannungsverhältnis kann nicht dadurch aufgelöst werden, dass einem dieser Prinzipien unbedingter Vorrang vor dem anderen eingeräumt wird. Alle genannten Prinzipien sind wesentliche Teile des Rechtsstaatsprinzips; ein grundsätzlicher Vorrang eines dieser Prinzipien ist nicht begründbar. Diesen Konflikt prinzipiell gleichwertiger Verfassungsprinzipien muss daher der Gesetzgeber im Weg einer angemessenen Abwägung lösen, wann und in welchem Umfang materielle Bestandskraft eintreten soll.[1]

 

Rz. 20

Diese gesetzgeberische Abwägung ist in §§ 172ff. AO vorgenommen worden. Wesentlich ist dabei die Unterscheidung zwischen Verbrauchsteuerbescheiden einerseits und Besitz- und Verkehrsteuerbescheiden andererseits. Verbrauchsteuerbescheide pflegen in einem summarischen Verfahren, an der Grenze, zudem von weniger in der Rechtsanwendung ausgebildetem Personal erlassen zu werden. Ihre Fehleranfälligkeit ist daher besonders hoch. Dem entspricht, dass ihre materielle Bestandskraft nach § 172 Abs. 1 Nr. 1 AO besonders gering ausgestaltet ist, der Grundsatz der Richtigkeit der Besteuerung also in weitem Umfang Vorrang erhält. Ein Ausgleich wird dadurch geschaffen, dass diese Bescheide nach § 169 Abs. 2 Nr. 1 AO einer kurzen Festsetzungsverjährung unterliegen. Diese Regelung trägt dem Grundsatz der Rechtssicherheit Rechnung.

 

Rz. 21

Besitz- und Verkehrsteuerbescheide werden regelmäßig aufgrund einer intensiveren Prüfung als Verbrauchsteuerbescheide erlassen. Die Finanzbehörde hat die Möglichkeit, den Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 AO beizufügen, wenn weitere Ermittlungen notwendig erscheinen. Vorbehaltlose Besitz- und Verkehrsteuerbescheide genießen daher in größerem Umfang Bestandsschutz; sie sind nur änderbar, wenn und soweit bestimmte Voraussetzungen vorliegen[2] oder der Stpfl. zustimmt.[3] Das Gesetz geht also insoweit von der Unabänderlichkeit der Bescheide aus, die Änderung ist begründungsbedürftige Ausnahme. Insbesondere Rechtsfehler genügen nicht zur Durchbrechung der Bestandskraft.

 

Rz. 22

Insgesamt stellen §§ 172ff. AO eine sachgerechte Abwägung der konkurrierenden Verfassungsprinzipien dar.

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