Rz. 1
§ 3 Abs. 10 UStG regelt einen Sonderfall der sonstigen Leistung in Form einer Werkleistung. Im Wirtschaftsleben – insbesondere in der Landwirtschaft und im handwerklichen Bereich – begegnet man häufig Vorgängen, die aus der Sicht eines Durchschnittsverbrauchers wie Tauschgeschäfte, also wie Lieferung und Gegenleistung, ablaufen und auch nach bürgerlichem Recht als Tauschgeschäfte beurteilt werden und deshalb den durch § 3 Abs. 12 UStG geregelten Fällen ähnlich sind. Wirtschaftlich gesehen wollen die Parteien aber keine Ware tauschen, sondern es soll ein Arbeitserfolg (Werkleistung) im Sinne einer Be- oder Verarbeitung eines Stoffes gegen Entgelt zugewendet werden. Typischer Fall ist die sog. Umtauschmüllerei: Ein Müller überlässt einem Landwirt, der ihm Weizen zum Herstellen von Mehl übergeben hat, anstelle des herzustellenden Mehls schon fertig gemahlenes Weizenmehl, das aus der Anlieferung anderer Landwirte stammt. Das Entgelt wird dabei unabhängig vom Unterschied zwischen dem Marktpreis des hingegebenen Weizens und dem des überlassenen Weizenmehls nach Art eines Werklohns berechnet. Weitere klassische Fälle: Umtauschbäckerei, -molkerei, -käserei, -mosterei, -spinnerei, -weberei. Weitere Einzelfälle vgl. Rz. 21ff.
Rz. 2
In der umsatzsteuerlichen Rechtsprechung wurde den wirtschaftlichen Gegebenheiten schon frühzeitig dadurch Rechnung getragen, dass in den geschilderten Fällen bezüglich des Stoffs wechselseitig keine Leistungen angenommen wurden, wenn der Zweck des Geschäfts auf einen Leistungsaustausch von Arbeit gegen Werklohn gerichtet war und der Werklohn unabhängig vom Wertunterschied des hingegebenen und des empfangenen Gegenstands berechnet wurde. § 3 Abs. 10 UStG ist folglich kodifizierte Rechtsprechung.
Rz. 3
Die praktische Bedeutung der Vorschrift beschränkt sich im Wesentlichen auf Land- und Forstwirte, die nach Durchschnittssätzen besteuert werden, sowie auf solche Unternehmer, denen der Vorsteuerabzug versagt ist. Im Bereich der Land- und Forstwirtschaft kann sich bei Anwendung der Pauschalierung ergeben, dass sich die Ausschaltung der Materialwerte aus dem Leistungsaustausch für die Steuerbelastung ungünstig auswirkt.
Rz. 4
Ein Verzicht auf die Anwendung des § 3 Abs. 10 UStG kommt nicht in Betracht, da es zu einer unzulässigen Besteuerung von Nichtleistungen käme. Der leistende Unternehmer hat jedoch die Möglichkeit, die Rechtsfolgen des § 3 Abs. 10 UStG dadurch außer Kraft zu setzen, indem er das Entgelt nicht nach der Art eines Werklohns unabhängig vom Unterschied zwischen Marktpreis des empfangenen Stoffes und dem des überlassenen Gegenstands berechnet, sondern vielmehr über den neu hergestellten Gegenstand insgesamt abrechnet.
Rz. 5
Der rechtliche Charakter von § 3 Abs. 10 UStG ist unklar. Unter Hinweis auf den Wortlaut der Vorschrift wurde durch die Rechtsprechung angenommen, es handele sich bei § 3 Abs. 10 UStG um eine Fiktion. Dagegen wird vorgebracht, dass die Vorschrift nur eine Regelung enthalte, die ausdrückt, was ohnehin rechtens sei. Insofern sei keine Fiktion, sondern eine deklaratorische (und damit normativ überflüssige) Regelung gegeben. Zudem leite sich aus den unionsrechtlichen Vorgaben für den Dienstleistungsbegriff ab, dass die Annahme einer inhaltlich auf eine Dienstleistung gerichteten Fiktion nicht richtlinienkonform und daher rechtswidrig sei. Denn die Rechtsfolgen des § 3 Abs. 10 UStG ergeben sich schon aufgrund richtiger Interpretation des Leistungsbegriffs, woraus sich der bloß deklaratorische Inhalt der Vorschrift ableitet. Im Hinblick auf die richtlinienkonforme Auslegung liegt der Regelungszweck von § 3 Abs. 10 UStG in einer auch aus Sicht des Durchschnittsverbrauchers zutreffenden Abgrenzung zu den Tauschgeschäften nach § 3 Abs. 12 UStG.