Prof. Dr. Volker Wahrendorf
2.1 Verfassungsmäßigkeit
Rz. 2
Die Norm wird als verfassungsgemäß angesehen (Becker/Kingreen/Münkler, SGB V, § 72a Rz. 1; Ostertag, in: KassKomm SGB V, § 72a Rz. 2). Die eigentliche verfassungsrechtliche Problematik ergibt sich weniger aus der isolierten Betrachtung des § 72a, sondern eher im Zusammenhang mit § 95b. Dort ist geregelt, dass es mit den Pflichten eines Vertragsarztes nicht vereinbar ist, kollektiv auf die Zulassung zu verzichten. Eine erneute Zulassung ist erst nach Ablauf von 6 Jahren nach Abgabe der Verzichtserklärung möglich. Das BSG (Urteil v. 7.6.2009, B 6 KA 16/08 R) hat in diesen Vorschriften keinen Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1, Art. 3, Art. 9 und Art. 14 GG gesehen.
2.2 Voraussetzungen (Abs. 1)
Rz. 2a
Der Sicherstellungsauftrag der vertrags(zahn)ärztlichen Versorgung obliegt nach § 75 Abs. 1 den Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen bzw. der Kassen(zahn)ärztlichen Bundesvereinigung. Sie haben das Behandlungsmonopol. Im Gegenzug sind sie verpflichtet, zu jeder Zeit eine ausreichende Zahl an Vertrags(zahn)ärzten für die Versorgung der Krankenversicherten zur Verfügung zu stellen. Das Behandlungsmonopol vereinbart sich grundsätzlich nicht mit dem kollektiven Ausstieg und auch nicht mit einem Streik der Vertrags(zahn)ärzte.
Arzt- und Zahnarztberuf sind freie Berufe, eine Zwangsverpflichtung zur Durchführung der Behandlung besteht abgesehen von lebensbedrohlichen Notfällen nicht. Das Recht, auf eine Zulassung/Ermächtigung zu verzichten, ist dem Vertragsarzt seit jeher unbenommen. Bisher ist dieses Recht als Recht des Einzelnen gesehen und praktiziert worden, jedoch nicht als kollektives Kampfmittel einer Berufsgruppe, ihre berufspolitischen Ziele zu erzwingen.
Rz. 3
Die Anwendung der Vorschrift hängt von zwei Voraussetzungen ab: dem kollektiven Verzicht oder Verweigerung und dem Moment, dass die vertragsärztliche Versorgung nicht mehr sichergestellt wird.
Kollektiver Verzicht oder kollektive Verweigerung der vertragsärztlichen oder -zahnärztlichen Versorgung liegt vor, wenn mehr als die Hälfte der niedergelassenen Vertragsärzte/-zahnärzte in einem Zulassungsbezirk (vgl. dazu § 98 Abs. 2 Nr. 7) oder regionalen Planungsbezirk auf ihre Zulassung verzichtet oder die Versorgung der Versicherten verweigert hat.
Rz. 4
Der Zulassungsverzicht ist eine einseitige Willenserklärung des Vertragsarztes/-zahnarztes gegenüber dem zuständigen Zulassungsausschuss, so dass für die Praxis nachprüfbar ist, wann die 50 %-Grenze überschritten wird. Problematisch dürfte dagegen werden, diese Grenze in Fällen der Verweigerung der Versorgung objektiv festzustellen. Es ist allerdings davon auszugehen, dass in dem einen wie dem anderen Falle erhebliche Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit vorausgehen werden, so dass sich daraus Anhaltspunkte für eine kollektive Verweigerung der Versorgung ergeben. Nach § 28 Ärzte-ZV wird der Verzicht auf eine Zulassung mit dem Ende des auf den Zugang der Verzichtserklärung des Vertragsarztes beim Zulassungsausschuss folgenden Kalenderjahres wirksam. Die Feststellung muss sich auf wirksame Verzichtserklärungen und auf die abgegebenen Verzichtserklärungen beziehen (Klümann, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 72a Rz. 11).
Als Verzicht ist weder ein "Streik" noch die vorübergehende Schließung der Praxis anzusehen (Becker/Kingreen/Münkler, SGB V, § 72a Rz. 2). Zum kollektiven Verzicht muss hinzukommen, dass sich eine bestimmte Gruppe mit einem strategischen Ziel sammelt. Der Verzicht ist nur als kollektive Kampfhandlung einzuordnen (Klümann, in: Hauck/Noftz, SGB V, § 72a Rz. 10).
Das Tatbestandsmerkmal "niedergelassene Vertragsärzte" ist vom BSG (Urteil v. 17.6.2009, B 6 KA 16/08 R) differenziert ausgelegt worden. Für eine nach Arztgruppen differenzierende Betrachtungsweise spreche bereits der Begriff "insoweit". Auch der Zweck der Vorschrift bedeute, dass die Funktionsfähigkeit des vertragsärztlichen Systems sicherzustellen sei und eine zumindest kurzzeitige Unterversorgung zu verhindern auch für den Fall gelte, dass in dem Fall, dass ausschließlich eine einzelne Arztgruppe den Kollektivverzicht betreibe, allein auf diese abzustellen sei, da deren Verhalten das Ausmaß der konkreten Versorgungslücke bestimme.
2.3 Rechtsfolge
Rz. 5
Die Konsequenz eines kollektiven Verzichts auf die Zulassung bzw. einer kollektiven Verweigerung lautet, dass die vertrags(zahn)ärztliche Versorgung der Versicherten nicht mehr sichergestellt ist, die Krankenkassen mithin die Sachleistungsansprüche ihrer Versicherten nicht mehr in der bisherigen Weise erfüllen können. Dies festzustellen ist Sache der Aufsichtsbehörde, die dazu die Landesverbände der Krankenkassen, die Verbände der Ersatzkassen und die Kassen(zahn)ärztliche Vereinigung anhört. Der Übergang tritt von Gesetzes wegen ein, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind (Krauskopf/Sproll, SGB V, § 72a Rz. 3). Es bedarf keiner besonders gearteten Überleitung. Ab 1.7.2008 sind von der Landesaufsichtsbehörde die Ersatzkassen im jeweiligen Bundesland anzuhören, weil es auf Landesebene keine Verbände der Ersatzkassen gibt und der VdAK/AEV auf Bun...