Prof. Dr. Volker Wahrendorf
0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
Die Vorschrift ist durch das Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung (Gesundheitsstrukturgesetz – GSG) v. 21.12.1992 (BGBl. I S. 2266) eingeführt worden und zum 1.1.1993 in Kraft getreten.
Aufgrund des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG) v. 26.3.2007 (BGBl. I S. 378) sind in Abs. 1 und Abs. 3 Satz 1 die Wörter "Verbände der" mit Wirkung zum 1.7.2008 gestrichen worden. Dies ist eine Folge der neuen Organisationsstruktur der Verbände der Krankenkassen.
1 Allgemeines
Rz. 1a
Die Gründe für die Einführung dieses für ein Vertragspartnerschaftssystem ungewöhnlichen Paragraphen liegen im Verhalten einiger zahnärztlicher und ärztlicher Berufsverbände nach Inkrafttreten des GRG 1989 bzw. im Vorfeld des GSG. Insbesondere der Freie Verband deutscher Zahnärzte, die stärkste berufspolitische Gruppierung innerhalb der Zahnärzteschaft, hatte sich den Ausstieg der Zahnärzteschaft aus der vertragszahnärztlichen Versorgung der Krankenversicherten zum Ziel gesetzt und bereits konkrete Vorbereitungen getroffen. Der Verband setzte darauf, über einen zunächst zeitlich begrenzten Ausstieg der Vertragszahnärzte den Gesetzgeber veranlassen zu können, ab 1.1.1993 keine die Vertragszahnärzte einengenden Bestimmungen in das GSG aufzunehmen; außerdem sollten die Krankenkassen durch den Ausstieg aus der vertragszahnärztlichen Versorgung gezwungen werden, ihren Versicherten die Kosten einer nicht mehr vertraglich sicherzustellenden zahnärztlichen Versorgung zu erstatten. Damit wäre das Sachleistungsprinzip systemwidrig in ein Kostenerstattungsprinzip umgewandelt worden.
Ziele des Berufsverbandes waren, eine (höhere) privatzahnärztliche Vergütung durchzusetzen, die zum Schutz der Versicherten und der Krankenkassen geschlossenen Verträge auszuhebeln und die gesetzlich/vertraglich vereinbarte Wirtschaftlichkeitsprüfung der vertragszahnärztlichen Versorgung zu verhindern. Darüber war es vornehmlich in Bayern, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen zu erheblichen öffentlichen Auseinandersetzungen zwischen den Zahnärzten einerseits und den Aufsichtsbehörden sowie den Krankenkassen andererseits gekommen. Die Kassenzahnärztlichen Vereinigungen (KZV) als eigentliche Vertragspartner der Vertragszahnärztlichen Versorgung unterstützten mehr oder weniger stark die Ausstiegspläne des Freien Verbandes, dessen Mitglieder in der Selbstverwaltung der KZVen dominierten. Vor das Problem gestellt, die zahnärztliche Versorgung im Rahmen des Vertragsrechts des SGB V vielleicht nicht mehr sicherstellen zu können, entschied sich der Gesetzgeber dafür, auf den Fall des kollektiven Ausstiegs aus der vertrags(zahn)ärztlichen Versorgung zugeschnittene Sicherstellungsmaßnahmen in das Gesetz aufzunehmen. Seit Inkrafttreten des GSG am 1.1.1993 hat die Vorschrift keine praktische Anwendung erfahren, was beweist, dass das eigentliche Ziel, der Erhalt der bewährten Konzeption der vertrags(zahn)ärztlichen Versorgung, erreicht worden ist.
2 Rechtspraxis
2.1 Verfassungsmäßigkeit
Rz. 2
Die Norm wird als verfassungsgemäß angesehen (Becker/Kingreen/Münkler, SGB V, § 72a Rz. 1; Ostertag, in: KassKomm SGB V, § 72a Rz. 2). Die eigentliche verfassungsrechtliche Problematik ergibt sich weniger aus der isolierten Betrachtung des § 72a, sondern eher im Zusammenhang mit § 95b. Dort ist geregelt, dass es mit den Pflichten eines Vertragsarztes nicht vereinbar ist, kollektiv auf die Zulassung zu verzichten. Eine erneute Zulassung ist erst nach Ablauf von 6 Jahren nach Abgabe der Verzichtserklärung möglich. Das BSG (Urteil v. 7.6.2009, B 6 KA 16/08 R) hat in diesen Vorschriften keinen Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1, Art. 3, Art. 9 und Art. 14 GG gesehen.
2.2 Voraussetzungen (Abs. 1)
Rz. 2a
Der Sicherstellungsauftrag der vertrags(zahn)ärztlichen Versorgung obliegt nach § 75 Abs. 1 den Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen bzw. der Kassen(zahn)ärztlichen Bundesvereinigung. Sie haben das Behandlungsmonopol. Im Gegenzug sind sie verpflichtet, zu jeder Zeit eine ausreichende Zahl an Vertrags(zahn)ärzten für die Versorgung der Krankenversicherten zur Verfügung zu stellen. Das Behandlungsmonopol vereinbart sich grundsätzlich nicht mit dem kollektiven Ausstieg und auch nicht mit einem Streik der Vertrags(zahn)ärzte.
Arzt- und Zahnarztberuf sind freie Berufe, eine Zwangsverpflichtung zur Durchführung der Behandlung besteht abgesehen von lebensbedrohlichen Notfällen nicht. Das Recht, auf eine Zulassung/Ermächtigung zu verzichten, ist dem Vertragsarzt seit jeher unbenommen. Bisher ist dieses Recht als Recht des Einzelnen gesehen und praktiziert worden, jedoch nicht als kollektives Kampfmittel einer Berufsgruppe, ihre berufspolitischen Ziele zu erzwingen.
Rz. 3
Die Anwendung der Vorschrift hängt von zwei Voraussetzungen ab: dem kollektiven Verzicht oder Verweigerung und dem Moment, dass die vertragsärztliche Versorgung nicht mehr sichergestellt wird.
Kollektiver Verzicht oder kollektive Verweigerung der vertragsärztlichen oder -zahnärztlichen Versorgung liegt vor,...