Unionsrechtsgrundlage: Nach Art. 11 MwStSystRL steht es den europäischen Mitgliedstaaten offen, in seinem Gebiet ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln.
Vertragsverletzungsverfahren: Inzwischen haben die Mehrzahl der Mitgliedstaaten eine derartige nationale Mehrwertsteuergruppen- bzw. Organschaftsregelung eingeführt, gleichwohl sich diese zum Teil stark voneinander unterscheiden. Dies hatte die Kommission bereits 2009 bewegt, in einer unverbindlichen Mitteilung zur Auslegung der Mehrwertsteuergruppe Stellung zu nehmen und anschließend Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten einzuleiten, die nach Ansicht der Kommission die Vorgaben in Art. 11 MwStSystRL unionsrechtswidrig umgesetzt hatten. Hervorzuheben ist, dass die Kommission gegen Deutschland und Österreich kein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hatte, obwohl in Deutschland und Österreich – anders als in den übrigen Mitgliedstaaten – nicht die Mehrwertsteuergruppe selbst, sondern ein Mitglied (der sog. Organträger) Steuerschuldner der Umsatzsteuer wird.
Das Konzept der Mehrwertsteuergruppe: Bereits 1979 hatte der EuGH in der Rechtssache Van Paassen entschieden, dass die niederländische Umsetzung der Mehrwertsteuergruppe, wonach die Mehrwertsteuergruppe selbst als Steuerschuldnerin zu behandeln ist, unionsrechtskonform ist.
In anderen Mitgliedstaaten (mit Ausnahme von Deutschland und Österreich) wird die Mehrwertsteuergruppe als eine Art BGB-Gesellschaft behandelt, auch wenn in der deutschen Literatur kontrovers diskutiert wurde, ob eine nichtrechtsfähige Personenvereinigung überhaupt Unternehmer i.S.d. § 2 UStG sein könne. Mit Änderung des Wortlauts in § 2 Abs. 1 Satz 1 UStG durch das Jahressteuergesetz 2022 hat sich dieser Rechtsstreit erübrigt: Unternehmer ist danach, wer eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbstständig ausübt, unabhängig davon, ob er nach anderen Vorschriften rechtsfähig ist.
Das Konzept der Organschaft: Nach den EuGH-Urteilen in den Rechtssachen Norddeutsche Diakonie und Finanzamt T liegen nun erstmalig Entscheidungen vor, dass es den Mitgliedstaaten gestattet ist, nicht die Mehrwertsteuergruppe selbst, sondern abweichend auch ein Mitglied (z.B. Organträger) zum Steuerschuldner für die Umsätze der Organschaft zu bestimmen. So sehr dies auch im Vorfeld kontrovers diskutiert wurde, wäre eine anderslautende Entscheidung des EuGH doch erstaunlich gewesen, weil Art. 11 MwStSystRL in seiner Entstehungsgeschichte die deutsche Organschaftsregelung absichern sollte.
Der Streit zur finanziellen Eingliederung: Ungeachtet der Rechtsfrage, ob anstelle der Mehrwertsteuergruppe auch ein Mitglied Steuerschuldner für die Umsätze der Gruppe sein kann, wollte der 11. BFH-Senat vom EuGH darüber hinaus wissen, ob beim Erfordernis der finanziellen Eingliederung ein strenger oder ein großzügiger Maßstab anzulegen ist. Hintergrund ist, dass nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 UStG für eine Organschaft erforderlich ist, dass die Organgesellschaft finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert ist. Der BFH und die Finanzverwaltung stellten hierzu nicht auf die kapitalmäßige Beteiligung, sondern auf die Stimmrechte ab (Abschn. 2.8 Abs. 5 Satz 2 UStAE). Hierdurch sollten Steuerausfälle vermieden werden und der 5. BFH-Senat hatte – anders als der 11. BFH-Senat – auch nach dem EuGH-Urt. in den Rechtssachen Larentia + Minerva und Marenave Schifffahrt keine Zweifel, dass diese sog. Eingliederung mit Durchgriffsrechten unionsrechtskonform ist.
Das Missverständnis des EuGH: Die Vorlagefrage des 5. BFH-Senats – und die Divergenz der BFH-Senate – hatten die Richter beim EuGH wohl nicht verstanden (Spekulation). Jedenfalls wurde die Vorlagefrage so umformuliert, ob eine nationale Regelung im Einklang mit Art. 11 MwStSystRL sei, wenn der Organträger zusätzlich zu einer Mehrheitsbeteiligung an der Organgesellschaft über eine Stimmrechtsmehrheit bei ihr verfügen muss. Dies ist jedoch weder nach der Rechtsprechung des BFH noch nach Auffassung der Finanzverwaltung erforderlich, weil es – wie zuvor ausgeführt – ausschließlich auf die Stimmrechtsmehrheit ankommt (Abschn. 2.8 Abs. 5 Satz. 2 UStAE).
Der Ursprung des Streits zur umsatzsteuerlichen Behandlung der Innenumsätze: Es kam wie es kommen musste und die Antwort des EuGH auf diese Vorlagefrage war alles andere als verständlich. Aufgrund von Passagen in der Urteilsbegründung entbrannte darüber hinaus die Diskussion, ob die Leistungen zwischen Personen im Organkreis (sog. Innenumsätze) der Umsatzsteuer unterliegen. Die Generalanwältin Medina hatte die Büchse der Pandora geöffnet, obwohl die umsatzsteuerliche Behandlung der Innenumsätze (ursprünglich) gar nicht vom BFH an den EuGH herangetragen worden war.