Offene Rechtsfragen: Unabhängig vom Ausgang der erneuten EuGH-Vorlage, ist zu prophezeien, dass die deutsche Organschaft nicht zur Ruhe kommen wird.
Skandia America und Danske Bank: Aufgrund des deutschen Sonderwegs stellt sich die Folgefrage, wie die Grundsätze "Skandia America" und "Danske Bank" in Deutschland umzusetzen sind. So könnte man sich auf den Standpunkt stellen, dass es aufgrund des Sonderwegs in Deutschland keine Notwendigkeit besteht, z.B. Umsätze zwischen einer ausländischen festen Niederlassung (umsatzsteuerliche Betriebsstätte) und dem Stammhaus eines inländischen Organträger umsatzsteuerbar zu behandeln. Die Praxis benötigt hier dringend eine Handlungsanweisung durch die Finanzverwaltung, weil sonst eine Doppelbesteuerung droht, wenn z.B. bei zentralen Einkaufsstrukturen der Vorsteuerabzug in einem Mitgliedstaat versagt wird und in einem anderen Mitgliedstaat eine Umsatzsteuerbesteuerung im Wege des Reverse Charge-Verfahrens erfolgt.
Organisatorische Eingliederung: Darüber hinaus hat der BFH aufgrund der EuGH-Entscheidungen in den Rechtssachen Norddeutsche Diakonie und Finanzamt T das anhängige Verfahren zur organisatorischen Eingliederung ohne Personalunion wiederaufgenommen (BFH-Az. XI R 33/22). Gerade bei Banken und Versicherungen stehen die umsatzsteuerlichen Vorgaben zur organisatorischen Eingliederung – (teilweise) Personalunion, Beherrschungsvertrag, institutionell abgesicherte unmittelbare Eingriffsmöglichkeiten – im Widerspruch zu den aufsichtsrechtlichen Vorgaben. Im Einzelfall ist die Begründung einer umsatzsteuerlichen Organschaft aufgrund aufsichtsrechtlicher Vorgaben unmöglich.
Wirtschaftliche Eingliederung: Zur Abrundung wird an dieser Stelle noch auf eine Ende 2022 veröffentlichte Entscheidung des BFH hingewiesen, wonach die Vermietung von austauschbaren Büroräumen – im Streitfall hatten die Büroräume immerhin 123 qm – nicht für eine wirtschaftliche Eingliederung ausreicht (BFH-Urt. v. 1.2.2022 – V R 23/21, BStBl. II 2023, 148). Denn gerade die Unbestimmtheit des Tatbestandsmerkmals der wirtschaftlichen Eingliederung wirft in der Betriebsprüfungspraxisregelmäßig die meisten Streitfragen auf. Auch nach 100 Jahren umsatzsteuerlicher Organschaft muss schlicht festgehalten werden, dass sich das Vorliegen einer umsatzsteuerlichen Organschaft in der Praxis häufig nicht rechtssicher bestimmen lässt.
BMF-Schreiben: Die Praxis wartet daher sehnsüchtig auf ein BMF-Schreiben. Nach der erneuten EuGH-Vorlage dürfte ein BMF-Schreiben wohl erst einmal aufgeschoben sein. Aufgrund der nur "minimalinvasiven Rechtsprechungsmodifizierung" dürfte die Finanzverwaltung allerdings auch nicht den Drang verspüren, umfassende Änderungen im UStAE vorzunehmen. Damit liegt es nun in der Hand des Gesetzgebers, die deutsche Organschaftsregelung umfassend zu modernisieren und endlich für Rechtssicherheit in der Praxis zu sorgen (z.B. durch ein Antragsverfahren).
Einbeziehung von Nichtunternehmern und nicht-wirtschaftlichen Sphären: Ebenfalls dürfte die Finanzverwaltung aufgrund der erneuten EuGH-Vorlage – zur Steuerbarkeit von Innenumsätze – erst einmal keine Notwendigkeit sehen, die restriktive Auffassung gem. Abschn. 2.8 Abs. 1 Satz 5 UStAE zur Einbeziehung von Nichtunternehmen bzw. nicht-wirtschaftlichen Sphären in den Organkreis aufzugeben. Dies ist schade, weil es in der Praxis sinnvolle Unternehmensstrukturen behindert (z.B. Holdingstrukturen mit nichtunternehmerischen Finanzholdings).
Vergabe eigenständiger USt-IdNr. und Zusammenfassende Meldung: Zu guter Letzt wird sich der Gesetzgeber auch damit beschäftigen müssen, ob die Vergabe einer eigenständigen USt-IdNr. an die jeweilige Organgesellschaft – einhergehend mit der Verpflichtung zur Abgabe von Zusammenfassenden Meldungen – im Einklang mit dem Unionsrecht ist. In der Praxis ist das Auftreten unter eigener USt-IdNr. für die Organgesellschaft regelmäßig vorteilhaft, weil dies Rückfragen vermeidet, wenn der Vertragspartner den Namen und die Anschrift mit den in der MIAS/VIES Datenbank hinterlegten Daten abgleicht. In anderen Mitgliedstaaten müssen die Mitglieder einer Mehrwertsteuergruppe die Vertragspartner proaktiv über das Bestehen einer Organschaft informieren, um Rückfragen zu vermeiden. Der Datenabgleich in der MIAS/VIES Datenbank verliert jedoch seine Sinnhaftigkeit, wenn ein Vertragspartner schlicht auf die Angaben des Vertragspartners vertrauen muss, ob eine Organschaft vorliegt oder nicht. Die Vergabe einer eigenständigen USt-IdNr. an die Organgesellschaft dürfte sich daher ggf. unter Steuermissbrauchsgesichtspunkten rechtfertigen lassen.