Rz. 1
Wie alle anderen Steuergesetze ist auch das ErbStG ständig der Rechtswirklichkeit anzupassen. Mit jeder Änderung des Gesetzes wird dabei der Zeitpunkt festgelegt, ab dem die neuen Rechtsnormen zu beachten sind. § 37 ErbStG regelt allgemein die Anwendung des geltenden ErbStG und unterliegt damit konsequent selbst der steten Änderung.
Rz. 2
Dem aktuellen ErbStG sind die für Steuerentstehungszeitpunkte vor dem 1.1.2010 geltenden, früheren Fassungen des § 37 ErbStG nicht zu entnehmen. Dies zwingt den Rechtsanwender mitunter, die für seinen Fall gültige Vorschrift zu suchen. Besonders hilfreich ist hierbei die von Jülicher erstellte Auflistung der Änderungsgesetze seit 1974, auf die verwiesen wird; dort findet man – anders als in H E 37 ErbStH 2019 – auch den Wortlaut der einzelnen Anwendungsregelungen.
Rz. 3
Zuletzt ergänzt durch das Jahressteuergesetz 2020 v. 21.12.2020 enthält die Vorschrift inzwischen 18 Absätze. Auch nach der ab 1.1.2009 wirksam gewordenen Erbschaftsteuerreform wurde der Gesetzgeber immer wieder tätig, bisweilen allerdings mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts, das mittlerweile zu einem Ersatzgesetzgeber des ErbStG wurde.
Mit Beschluss v. 22.6.1995 hatte es einst die Unvereinbarkeit des damals geltenden ErbStG mit Art. 3 Abs. 1 GG festgestellt, weil das Grundvermögen einerseits und das übrige Vermögen andererseits extrem unterschiedlich bewertet wurden. Doch dem Gesetzgeber gelang es nicht nur nicht, diesen Zustand zu beseitigen. Zusätzlich privilegierte er auch noch die Erwerber von Betriebsvermögen in gleichheitswidriger Weise. So entschied das BVerfG erneut über das ErbStG – auf Vorlage des BFH nach Art. 100 Abs. 1 GG und daher mit Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 1 i.V.m. § 13 Nr. 11 BVerfGG). Der Beschluss v. 7.11.2006 lautet:
Rz. 4
Die Anordnung in Nr. 2 Satz 1 befremdet. Es gibt eigentlich keine plausiblen Gründe für die Weiteranwendung klar verfassungswidriger Rechtsnormen. Das BVerfG berief sich grundlos auf die Erfordernisse einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung; denn eine rückwirkende oder zumindest sofortige Aufhebung gleichheitswidriger Begünstigungsvorschriften hätte die Länderhaushalte niemals nachteilig tangieren können.
Rz. 5
Mit dem gerade noch rechtzeitig am 31.12.2008 verkündeten ErbStRG v. 24.12.2008 lieferte der Gesetzgeber leider wieder keine Meisterleistung. Nicht überraschend veranlasst durch den II. BFH-Senat, attestierte das BVerfG acht Jahre später die Verfassungswidrigkeit des § 19 Abs. 1 ErbStG wegen Unvereinbarkeit der §§ 13a und 13b ErbStG mit dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Erneut verzichtete es auf die Feststellung der Nichtigkeit des ErbStG und ordnete stattdessen die Weiteranwendung des bisherigen Rechts an, verbunden mit der Pflicht zu einer Neuregelung bis zum 30.6.2016. Man muss diese inzwischen schon fast zur ständigen Übung gewordene Praxis des BVerfG nun doch wohl als Freifahrtschein für wiederholte Fehlleistungen der Legislative werten und nicht als "Beitrag zur Gesetzgebungskultur im Steuerrecht". Der Gesetzgeber scheint darauf jedenfalls zu vertrauen – oder nimmt er das BVerfG inzwischen überhaupt nicht mehr ernst? Wie anders ist es zu verstehen, dass er die ihm gesetzte Neuregelungsfrist nicht nur missachtete, sondern bewusst auch deutlich überschritt? Das Gesetz zur Anpassung des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts v. 4.11.2016 wurde, mit Rückwirkung ab 1.7.2016 (Art. 3), erst am 9.11.2016 verkündet. Dass allein schon deshalb wieder verfassungsrechtliche Zweifel aufgekommen sind, wundert nicht (s. Rz. 19.1 und 19.2).
Rz. 6
Den Anwendungsvorschriften gemeinsam ist die Bestimmung des Geltungszeitpunkts der jeweils aktualisierten Gesetzesfassung unter Anknüpfung an die Entstehung des Steueranspruchs. Inzident erhält damit auch § 9 ErbStG ...