Sachverhalt
In dem Verfahren standen die Voraussetzungen der Steuerbefreiung für gewerbliche ambulante Pflegedienste auf dem Prüfstand. Streitig war, ob der Befreiungstatbestand des § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG in seiner 1993/1994 geltenden Fassung mit den Vorgaben des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EG-Richtlinie (jetzt Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL) vereinbar ist. Nach der deutschen Regelung waren die Pflegeleistungen privater Pflegedienste nur dann von der Umsatzsteuer befreit, wenn deren Umsätze im vorangegangenen Kalenderjahr in mindestens zwei Drittel (heute: 40%) der Fälle von den gesetzlichen Trägern der Sozialversicherung oder Sozialhilfe ganz oder zum überwiegenden Teil getragen worden sind.
Der vorlegende XI. Senat des BFH hielt es für möglich, dass diese Kostentragungs- bzw. Quotenregelung gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität verstößt, weil die durch Rechtsverordnung (§ 23 UStDV) anerkannten Wohlfahrtsverbände - die mit den gewerblichen Pflegediensten auf dem Markt konkurrierten - gemäß § 4 Nr. 18 UStG dieser Quotenregelung nicht unterworfen sind. Auch die Europäische Kommission sah in ihrer Stellungnahme in dem Verfahren hierin einen Verstoß gegen den Neutralitätsgrundsatz.
Der Generalanwalt hatte sich in seinen Schlussanträgen v. 19.7.2012 den Zweifeln des BFH und der Auffassung der Kommission angeschlossen und die Meinung vertreten, dass Deutschland die Grenzen des ihm bei der Anerkennung privater Einrichtungen als "soziale Einrichtungen" i.S.d. 6. EG-Richtlinie eingeräumten Ermessens überschreitet. Das Zwei-Drittel-Kriterium dürfe daher auch nicht im Rahmen des § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG gelten.
In dem zu entscheidenden Fall hatte die Klägerin seit Anfang 1993 einzelne Patienten selbständig ambulant gepflegt und zum 1.6.1993 einen ambulanten Pflegedienst angemeldet. Zum 1.10.1993 wurde sie u. a. für die Leistungen der häuslichen Krankenpflege zu den Krankenkassen zugelassen. Von den in 1993 insgesamt behandelten Personen waren nach Feststellung des Finanzamts 68 % Privatzahler. Daraufhin versagte das Finanzamt die Steuerfreiheit der von der Klägerin im Jahr 1993 erbrachten Leistungen. Die Voraussetzung des § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG a.F., wonach eine Steuerbefreiung für ambulante Pflegeleistungen nur greift, wenn in mindestens zwei Drittel der Fälle die Pflegekosten von einem Träger der Sozialversicherung übernommen worden sind, hätten nicht vorgelegen. Auch für das Folgejahr (1994) versagte das Finanzamt die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 16 Buchst. e UStG a.F., weil die Vorschrift auf die Verhältnisse des Vorjahrs abstelle.
Entscheidung
Der EuGH hat sich in seinem Urteil der Rechtsauffassung des Generalanwalts angeschlossen. Zwar hält er die Zwei-Drittel-Grenze für die Anerkennung des sozialen Charakters nichtöffentlicher Einrichtungen grundsätzlich für ermessensgerecht. Das Abstellen auf das vorangegangene Kalenderjahr sei aber rechtswidrig, wenn dies zur Folge hätte, dass die Anerkennung des sozialen Charakters von Leistungserbringern im ersten Kalenderjahr oder in den ersten beiden Kalenderjahren ihrer Tätigkeit automatisch und zwangsläufig ausgeschlossen sei (was m.E. nicht der Fall ist). Dies zu prüfen ist Aufgabe des BFH.
Der EuGH kommt jedoch unter Würdigung des Neutralitätsgrundsatzes weiter zu dem Ergebnis, dass eine nationale Regelung bei der Befreiung nach Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EG-Richtlinie keine sachlich unterschiedlichen Bedingungen für Einrichtungen mit Gewinnerzielungsabsicht einerseits und die unter § 4 Nr. 18 UStG fallenden juristischen Personen ohne Gewinnerzielungsabsicht andererseits vorsehen darf. Daher stehe Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der 6. EG-Richtlinie der Anwendung der Zwei-Drittel-Grenze entgegen, soweit sie bei im Wesentlichen identischen Leistungen für die Anerkennung des sozialen Charakters bestimmter privatrechtlicher Steuerpflichtiger angewandt wird, auf andere aber nicht.
Hinweis
Nach dem Urteil müsste wohl die bei der Steuerbefreiung für Pflege- und Betreuungsleistungen zurzeit noch vorgesehene Unterscheidung zwischen den anerkannten Verbänden der freien Wohlfahrtspflege und anderen nichtöffentlichen Einrichtungen abgeschafft werden, da eine Identität der Leistungsinhalte wohl nicht bezweifelt werden kann.
Der Entwurf des JStG 2013 sieht mit der vorgesehenen Neufassung von § 4 Nr. 18 UStG bereits die Abschaffung dieser Unterscheidung vor, weil danach Betreuungsleistungen durch Wohlfahrtsverbände ausschließlich unter die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 16 UStG fallen würden.
Der dem Vorlageersuchen des BFH zu Grunde liegende Fall betraf die Rechtslage der Jahre 1993 und 1994. Zwischenzeitlich wurde § 4 Nr. 16 UStG überarbeitet, zuletzt grundlegend durch das JStG 2009 zum 1.1.2009. In die Neufassung des § 4 Nr. 16 UStG wurden jene Einrichtungen der bisherigen Buchstaben d und e des § 4 Nr. 16 UStG a. F. (z. B. Altenheime, Altenwohn- und Pflegeheime sowie Einrichtungen zur vorübergehenden Aufnahme pflegebedürftiger Personen) in den...