Prof. Dr. Franceska Werth
Leitsatz
1. Der Erbe tritt sowohl in materieller als auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht in die abgabenrechtliche Stellung des Erblassers ein und schuldet die Einkommensteuer als Gesamtschuldner in der Höhe, in der sie durch die Einkünfteerzielung des Erblassers entstanden ist.
2. Auch eine wegen Demenz des Erblassers unwirksame Einkommensteuererklärung führt – ist sie unrichtig oder unvollständig – zu einer Berichtigungspflicht des Erben nach § 153 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 AO, bei deren Verletzung eine Steuerhinterziehung nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO durch Unterlassen vorliegen kann.
3. Die Berichtigungspflicht des Erben nach § 153 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 2 AO wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass er bereits vor dem Tod des Erblassers Kenntnis davon hatte, dass dessen Steuererklärung unrichtig ist.
4. Die Verlängerung der Festsetzungsfrist auf zehn Jahre gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 und 3 1. Halbsatz AO tritt auch dann ein, wenn der als Gesamtschuldner in Anspruch genommene Erbe keine Kenntnis von der Steuerhinterziehung eines Miterben hat.
5. Jedem Erben steht die Möglichkeit zu, sich nach Maßgabe des § 169 Abs. 2 Satz 3 2. Halbsatz AO zu exkulpieren.
Normenkette
§ 153 Abs. 1, § 169 Abs. 2, § 44 Abs. 2, § 45, § 370 AO
Sachverhalt
Die Klägerin war gemeinsam mit ihrer Schwester (C) Erbin (Gesamtrechtsnachfolgerin) ihrer im Jahr 2000 verstorbenen Mutter. Die Erblasserin hatte ihre Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre 1993 bis 1999 unter Mitwirkung der C erstellt. Sie war bei der Abgabe der Einkommensteuererklärungen für die Jahre 1995 bis 1999 aufgrund einer fortgeschrittenen Demenz geschäftsunfähig. Nach den Feststellungen der Steuerfahndung hatte die Erblasserin in den Streitjahren ihre im Ausland erzielten Kapitaleinkünfte in den Einkommensteuererklärungen nicht angegeben. Die C hatte spätestens ab dem Erbfall von den ausländischen Zinseinkünften der Erblasserin Kenntnis, ohne dass sie die Einkommensteuererklärung der Erblasserin berichtigte. Das FA nahm die Klägerin als Miterbin für die verkürzten Steuern der Erblasserin in Anspruch. Diese machte geltend, dass sie von der Steuerhinterziehung der Erblasserin und Miterbin keine Kenntnis hatte. Das FG (Hessisches FG, Urteil vom 30.7.2015, 13 K 2871/09, Haufe-Index 9065355, EFG 2016, 523) gab der Klage teilweise statt.
Entscheidung
Der BFH hat die Revision teilweise als unzulässig verworfen und im Übrigen als unbegründet zurückgewiesen.
Hinweis
1. Die Einkommensteuer des Erblassers entsteht nach § 36 Abs. 1 EStG in der gesetzlich geschuldeten Höhe. Diese Steuerschuld geht auf die Erben als Gesamtrechtsnachfolger nach § 1967 BGB, § 45 Abs. 1 Satz 1 AO über. Dies gilt unabhängig davon, ob der Erblasser zum Zeitpunkt der Entstehung der Steuerschuld dement war.
2. Erhält der (Mit-)Erbe vor oder nach dem Erbfall Kenntnis davon, dass der Erblasser die Steuer nicht in der richtigen Höhe erklärt hat, ist er spätestens nach Eintritt des Erbfalls verpflichtet, die Steuererklärung des Erblassers zu berichtigen. Andernfalls macht er sich wegen Steuerhinterziehung strafbar. Dies gilt nach Auffassung des BFH auch dann, wenn der Erblasser wegen Demenz eine unwirksame Steuererklärung abgegeben hat.
3. Die Steuerhinterziehung des Erblassers oder eines Erben hat Auswirkungen auf die Festsetzungsverjährung der Miterben. In diesem Fall verlängert sich für die Miterben die Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 Sätze 2 und 3 AO auf zehn Jahre. Dies gilt unabhängig davon, ob der Miterbe selbst Kenntnis von der Steuerhinterziehung hatte. Denn nach der Rechtsprechung des BFH kommt es für die Verlängerung der Festsetzungsfrist nur darauf an, dass es sich "objektiv um eine hinterzogene Steuer" handelt.
4. Die Exkulpationsmöglichkeit nach § 169 Abs. 2 Satz 3 2. Halbsatz AO ist nicht gegeben, wenn der Miterbe durch die Steuerhinterziehung selbst einen Vermögensvorteil in Form einer zu niedrig festgesetzten Steuerschuld erlangt hat, die er als Gesamtrechtsnachfolger des Erblassers schuldet.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 29.8.2017 – VIII R 32/15