Leitsatz
1. Ein Mitgliedstaat ist durch das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, wie es in Art. 2 Abs. 1 und 2 der Ersten Richtlinie 67/227/EWG des Rats vom 11.04.1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die USt sowie den Art. 2 und 10 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2 der 6. EG-RL in der durch die RL 2004/66/EG des Rats vom 26.04.2004 geänderten Fassung definiert worden ist, nicht daran gehindert, in seinem Recht eine verwaltungsrechtliche Sanktion vorzusehen, die gegen Mehrwertsteuerpflichtige verhängt werden kann, wie die "zusätzliche Steuerschuld" i.S.v. Art. 109 Abs. 5 und 6 des Gesetzes über die Steuer auf Waren und Dienstleistungen (ustawa o podatku od towarów i usług) vom 11.03.2004.
2. Bestimmungen wie Art. 109 Abs. 5 und 6 des Gesetzes über die Steuer auf Waren und Dienstleistungen vom 11.03.2004 sind keine "abweichenden Sondermaßnahmen" zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen oder -umgehungen i.S.v. Art. 27 Abs. 1 der 6. EG-RL in ihrer geänderten Fassung.
3. Art. 33 der 6. EG-RL in ihrer geänderten Fassung steht der Beibehaltung von Bestimmungen wie Art. 109 Abs. 5 und 6 des Gesetzes über die Steuer auf Waren und Dienstleistungen vom 11.03.2004 nicht entgegen.
Normenkette
Art. 22 Abs. 8 und Art. 27 Abs. 1 der 6. EG-RL (Art. 273 und Art. 395 MSystRL)
Sachverhalt
Ein Unternehmer hatte die Steuerbefreiung für eine Lieferung beansprucht, die ihm nicht zustand. Aufgrund der in den Praxis-Hinweisen geschilderten Regelung wurde ihm zusätzlich zur Nacherhebung der Steuer die Strafsteuer auferlegt. Die Frage der Zulässigkeit dieser Regelung veranlasste das polnische Gericht zu dem Vorabentscheidungsersuchen.
Entscheidung
Die vom EuGH aufgestellten Grundsätze ergeben sich aus den Praxis-Hinweisen.
Hinweis
1. Das polnischen USt-Recht enthielt und enthält eine Regelung, wonach das FA, wenn der Steuerpflichtige die Erstattung eines höheren Betrags beansprucht, als ihm rechtlich zusteht, eine Strafsteuer i.H.v. 30 % des Betrags der Überhöhung festsetzen darf. Das wäre gemeinschaftsrechtlich unzulässig, wenn darin eine zusätzliche Mehrwertsteuer zu sehen wäre.
2. Die Mehrwertsteuer hat – wie der EuGH bereits mehrfach entschieden hat – folgende vier Merkmale:
- Sie gilt allgemein für alle Geschäfte, die sich auf Gegenstände und Dienstleistungen beziehen.
- Deren Höhe wird proportional zum Preis berechnet, den der Steuerpflichtige als Gegenleistung für die Gegenstände und Dienstleistungen erhält.
- Sie wird auf jeder Produktions- und Vertriebsstufe einschließlich der Einzelhandelsstufe erhoben, ungeachtet der Zahl der vorher bewirkten Umsätze.
- Der Steuerpflichtige kann die auf den vorhergehenden Stufen bereits entrichteten Beträge von der von ihm geschuldeten Steuer abziehen, sodass sich die Steuer auf einer bestimmten Stufe nur auf den auf dieser Stufe vorhandenen Mehrwert bezieht und die Belastung letztlich vom Verbraucher getragen wird.
3. Eine "zusätzliche Steuerschuld", wie sie in den genannten nationalen Rechtsvorschriften vorgesehen ist, erfüllt diese Merkmale schon deshalb nicht, weil ihr Entstehungsgrund nicht in irgendeinem Umsatz, sondern in einer fehlerhaften Steuererklärung liegt, und ihre Höhe nicht proportional zum Preis festgesetzt wird, den der Steuerpflichtige erhält. Es handelt sich in Wirklichkeit nicht um eine Steuer, sondern um eine verwaltungsrechtliche Sanktion, die verhängt wird, wenn festgestellt wird, dass der Steuerpflichtige einen Betrag als zu erstattende Steuerdifferenz oder als zu erstattende Vorsteuer erklärt hat, der höher ist als der ihm zustehende Betrag.
4. Der Grundsatz des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems hindert die Mitgliedstaaten nicht an der Einführung von Maßnahmen, mit denen Unregelmäßigkeiten bei der Erklärung des geschuldeten Mehrwertsteuerbetrags geahndet werden. Nach Art. 22 Abs. 8 der 6. EG-RL konnten die Mitgliedstaaten ganz im Gegenteil weitere Pflichten vorsehen, die sie als erforderlich erachten, um die genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen.
5. Aus denselben Gründen ist auch eine verwaltungsrechtliche Sanktion, die verhängt wird, wenn festgestellt wird, dass der Steuerpflichtige als zu erstattende Steuerdifferenz oder als zu erstattende Vorsteuer einen höheren als den ihm zustehenden Betrag erklärt hat, keine abweichende Sondermaßnahme i.S.d. Art. 27 Abs. 1 der 6. EG-RL bezeichneten Art , sondern eine – zulässige – Maßnahme nach Art. 22 Abs. 8 der 6. EG-RL.
Link zur Entscheidung
EuGH, Urteil vom 15.01.2009, C-502/07 – K-1 sp. z o.o. –