Leitsatz
1. Die Dauer eines Gerichtsverfahrens ist nur dann "unangemessen" i.S.d. § 198 GVG, wenn eine deutliche Überschreitung der äußersten Grenze des Angemessenen feststellbar ist.
2. Die gem. § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG im Vordergrund stehende Einzelfallbetrachtung schließt es aus, konkrete Fristen für die Gesamtdauer eines Verfahrens zu bezeichnen, bei deren Überschreitung die Verfahrensdauer als unangemessen anzusehen ist. Allerdings spricht bei einem finanzgerichtlichen Klageverfahren, das im Vergleich zu dem bei derartigen Verfahren typischen Ablauf keine wesentlichen Besonderheiten aufweist, eine Vermutung dafür, dass die Dauer des Verfahrens angemessen ist, wenn das Gericht gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage mit Maßnahmen beginnt, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen sollen, und die damit begonnene Phase der gerichtlichen Aktivität nicht durch nennenswerte Zeiträume unterbrochen wird, in denen das Gericht das Verfahren unbearbeitet lässt.
3. Die genannte Angemessenheitsvermutung steht stets unter dem Vorbehalt der Betrachtung der besonderen Umstände des Einzelfalls. Sie gilt insbesondere nicht, wenn ein Verfahrensbeteiligter das Gericht rechtzeitig und in nachvollziehbarer Weise auf Gründe hinweist, die für eine besondere Eilbedürftigkeit des Verfahrens sprechen. Unabhängig davon verdichtet sich mit zunehmender Verfahrensdauer die Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Förderung, Beschleunigung und Beendigung des Verfahrens zu bemühen.
4. In einem Verfahren, das im Zeitpunkt des Inkrafttretens des ÜberlVfRSchG (3.12.2011) bereits verzögert war, gilt eine Verzögerungsrüge als unverzüglich nach Inkrafttreten dieses Gesetzes erhoben und wahrt damit gem. Art. 23 Sätze 2 und 3 ÜberlVfRSchG Entschädigungsansprüche auch für die Zeit vor Inkrafttreten des Gesetzes, wenn sie spätestens drei Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes beim Ausgangsgericht eingeht.
Normenkette
§ 198 Abs. 1 GVG, ÜberlVfRSchG Art. 23 Sätze 2, 3
Sachverhalt
Der Kläger begehrt gem. § 198 GVG Entschädigung wegen der von ihm als unangemessen angesehenen Dauer eines von Februar 2004 (Klageeingang) bis zum November 2012 (Kostenbeschluss nach Erledigung der Hauptsache) vor dem FG anhängigen Klageverfahrens. In dem Ausgangsverfahren hatte die Familienkasse den Kindergeldanspruch des Klägers um kindergeldähnliche Leistungen gekürzt, die seine in Nordirland mit den gemeinsamen Kindern lebende Ehefrau als sog. child benefits vermeintlich erhielt bzw. erhalten sollte. Inwieweit in Nordirland tatsächlich ein kindergeldähnlicher Anspruch bestand bzw. die Ehefrau die erforderlichen Anträge gestellt hatte, blieb im finanzgerichtlichen Verfahren aus vielerlei Gründen, die teils der Sphäre des Klägers, teils der Sphäre der Familienkasse zuzurechnen waren, ungeklärt. Auch aufgrund verschiedener Berichterstatterwechsel im FG (FG Baden-Württemberg, 13 K 50/04; später 13 K 1691/11 und 6 K 1691/11) kam es erst im Herbst 2012 zu einer Einigung. Die Familienkasse half dem Klagebegehren außerhalb des Klageverfahrens ab, der Rechtsstreit wurde für erledigt erklärt und die Kosten der Familienkasse auferlegt.
Entscheidung
Die Entschädigungsklage des Klägers hatte Erfolg. Der BFH sah eine Verzögerung von 43 Monaten als gegeben an. Da die Höhe der materiellen Nachteile (Zinsen) noch nicht ausreichend ermittelt werden konnte, entschied er durch Zwischenurteil.
Hinweis
Wann ist ein finanzgerichtliches Verfahren so unangemessen lang, dass gem. § 198 GVG Entschädigung gefordert werden kann? Dies ist der Kernpunkt aller Entschädigungsklagen. In diesem Urteil hat der im BFH für die Entschädigungsklagen wegen überlanger finanzgerichtlicher Verfahren zuständige X. Senat erste Leitlinien entwickelt.
1.Der gesetzliche Maßstab ergibt sich aus § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG, wonach sich die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach den Umständen des Einzelfalls richtet, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter.
2. Bei der notwendigen Konkretisierung des Begriffs "Angemessenheit" ist zu berücksichtigen, dass er für Wertungen offen ist und durch ein Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen hochrangigen Rechtsgrundsätzen und -gütern geprägt wird. Hierzu zählen das Interesse der Prozessbeteiligten an einem möglichst zügigen Abschluss des Rechtsstreits, sein Anspruch auf Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes, zu dessen Kernbereich die Schaffung gerichtlicher Strukturen gehört, die eine möglichst weitgehende inhaltliche Richtigkeit von Entscheidungen und ihre möglichst hohe Qualität gewährleisten. Ferner ist ggf. der Grundsatz der Unabhängigkeit des Richters berührt, sofern die Entschädigungsgerichte mittelbar in die Freiheit der Richter eingreifen würden, ihr Verfahren frei von äußeren Einflüssen zu gestalten, sowie der Anspruch auf den gesetzlichen Richter, wenn zunehmender Beschleunigungsdruck dazu führen würde, dass ein Verfahren bereits wegen kurzzeitiger, in der Person eines Richters lie...