Zur Vermeidung von Missverständnissen sei an dieser Stelle ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich die Begriffe Wohnsitz und gewöhnlicher Aufenthalt vom Begriff der Ansässigkeit unterscheiden, auch wenn sie diese bedingen.
Die Ansässigkeit ist ein abkommensrechtlicher Begriff. Ebenso wie der Wohnsitz führt auch der gewöhnliche Aufenthalt zur abkommensrechtlichen Ansässigkeit. Zwar wird in Art. 4 OECD-MA der gewöhnliche Aufenthalt nicht explizit als ansässigkeitsbegründendes Merkmal genannt. Er entspricht aber dem ständigen Aufenthalt und begründet daher die Ansässigkeit nach Art. 4 OECD-MA.
Art. 4 Abs. 1 OECD-MA erläutert den Begriff ansässige Person: eine Person ist i.S.d. Abkommens – nicht unbedingt damit auch i.S.d. nationalen Steuergesetze – dort ansässig, wo sie nach den innerstaatlichen Bestimmungen des Vertragsstaates aufgrund des Wohnsitzes, ständigen Aufenthalts, Ortes der Geschäftsleitung oder eines anderen ähnlichen Merkmals (unbeschränkt) steuerpflichtig ist (Wilke / Weber, Lehrbuch internationales Steuerrecht, 16. Aufl. 2022, Rz. 640).
Ist eine natürliche Person nach den Kriterien des Art. 4 Abs. 1 OECD-MA in beiden Vertragsstaaten ansässig (Doppel- oder Mehrfachansässigkeit), so stellt Art. 4 Abs. 2 OECD-MA eine Rangfolge auf, um die Person für Zwecke der Besteuerung dem einen oder anderen Staat zuordnen zu können (sog. tie-breaker-rules):
Die Person gilt gem. Art. 4 Abs. 2 Buchst. a OECD-MA als in dem Staat ansässig, in dem sie über eine ständige Wohnstätte verfügt. Hierunter ist eine Wohnung zu verstehen, die dem Steuerpflichtigen nach Größe und Ausstattung ein seinen Lebensverhältnissen entsprechendes Heim bietet und die er nicht gelegentlich verwendet. Zu beachten ist, dass Wohnstätte i.S.d. DBA und Wohnsitz nach § 8 AO sich unterscheiden. Eine nur gelegentliche Nutzung reicht für das OECD-MA nämlich nicht aus. Erforderlich sind vielmehr eine Art und Intensität der Nutzung, welche die Wohnung als eine nicht nur hin und wieder aufgesuchte, sondern in dem allgemeinen Lebensrhythmus einbezogene Anlaufstelle des Steuerpflichtigen erscheinen lässt (Wilke / Weber, Lehrbuch internationales Steuerrecht, 16. Aufl. 2022, Rz. 642).
Hat die Person in beiden Vertragsstaaten ständige Wohnstätten, so gilt sie als in dem Staat ansässig, zu dem sie die engeren persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen hat (Art. 4 Abs. 2 Buchst.a 2. Alt OECD-MA). Hiermit ist der Mittelpunkt der Lebensinteressen gemeint, der den konkreten Umständen des Einzelfalles zu entnehmen ist.
Gelingt es nicht, den Mittelpunkt der Lebensinteressen festzustellen, so ist nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. b OECD-MA der gewöhnliche Aufenthalt maßgebend. Der Begriff gewöhnlicher Aufenthalt ist nicht i.S.d. § 9 AO, sondern in Abgrenzung zu den anderen Kollisionsmerkmalen des Art. 4 Abs. 2 OECD-MA, d.h. abkommensautonom auszulegen. Die Auslegung des Begriffs ergibt sich aus seiner Funktion, den – anders nicht zu bestimmenden – Mittelpunkt der Lebensinteressen zu konkretisieren. Der Aufenthalt ist danach in dem Maße gewöhnlich, in dem er der Verwirklichung der persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen dient. Der gewöhnliche Aufenthalt liegt hierbei in dem Vertragsstaat, in dem der Steuerpflichtige überwiegend lebt (Wilke / Weber, Lehrbuch internationales Steuerrecht, 16. Aufl. 2022, Rz. 644).
Sodann ist die Staatsangehörigkeit (Art. 4 Abs. 2 c) OECD-MA) entscheidend: Bei doppelter Staatsangehörigkeit schließlich wird die Zuordnung im gegenseitigen Einvernehmen der Vertragsparteien geregelt (Art. 4 Abs. 2 Buchst. d, Art. 25 OECD-MA).