Leitsatz
§ 176 Abs. 2 AO gewährt keinen Änderungsschutz, wenn der BFH eine dort bezeichnete Verwaltungsvorschrift erst nach dem Erlass des angefochtenen Änderungsbescheids als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend bezeichnet.
Normenkette
§ 176 Abs. 2 AO, § 4 Nr. 12, § 9 UStG, Art. 135 Abs. 1 Buchst. l, Abs. 2 Satz 1 Buchst. c EGRL 112/2006 (= MwStSystRL)
Sachverhalt
Der Kläger verpachtete im Juli 2012 den bisher von ihm geführten land- und forstwirtschaftlichen Betrieb an eine GbR, die er zusammen mit seinem Sohn gegründet hatte und an der er mit 70 % beteiligt war. Die GbR versteuerte ihre Umsätze nach § 24 Abs. 1 UStG. Der Kläger errichtete auf seinem Grundstück einen Boxenlaufstall mit 65 Milchviehplätzen und erklärte gegenüber dem FA im September 2013, auf die Steuerfreiheit der Vermietung nach § 4 Nr. 12 Satz 1 Buchst. a UStG gemäß § 9 UStG zu verzichten. Mit seiner USt-Jahreserklärung 2013, der das FA gemäß § 168 Satz 2 AO zustimmte, machte der Kläger einen Vorsteuerabzug i.H.v. 105.294,03 EUR geltend. Den Boxenlaufstall verpachtete der Kläger unter Verzicht auf die Steuerfreiheit an die GbR mit Vertrag vom 1.3.2014 für einen jährlichen Pachtzins i.H.v. netto 45.000 EUR. Die Verpachtung bezog sich auf das Teilgrundstück, auf dem der Boxenlaufstall stand, das Gebäude und sämtliches Inventar wie zum Beispiel Melkroboter. Die Kosten für das Pachtobjekt beliefen sich insgesamt auf circa 680.000 EUR (Boxenlaufstall ca. 476.000 EUR, Tauchmotorrührwerk ca. 7.000 EUR, Melkroboter ca. 150.000 EUR, Stalleinrichtung ca. 29.000 EUR, Futtermittelsilos ca. 12.000 EUR und Pflasterung Boxenlaufstall ca. 6.000 EUR). Mit der USt-Jahreserklärung 2014, der das FA gleichfalls zustimmte, erklärte der Kläger steuerpflichtige Umsätze i.H.v. 38.320 EUR, unter anderem aus der Verpachtung des Boxenlaufstalls, und machte einen Vorsteuerabzug i.H.v. 21.807,47 EUR geltend, sodass sich eine Vergütung von 14.526,67 EUR ergab. Mit der USt-Jahreserklärung 2015 versteuerte er Umsätze i.H.v. 46.075 EUR, unter anderem aus der Verpachtung des Boxenlaufstalls, woraus sich unter Berücksichtigung eines Vorsteuerabzugs von 394,95 EUR eine Steuerschuld von 8.359,50 EUR ergab. Im März 2018 führte das FA beim Kläger eine Außenprüfung für die Jahre 2012 bis 2015 durch. Im Anschluss hieran ging das FA davon aus, dass die Mindestbemessungsgrundlage nach § 10 Abs. 5 UStG anzuwenden sei, dass ein marktübliches Entgelt für den auf die individuellen Bedürfnisse der Pächterin zugeschnittenen Stalls nicht ermittelbar sei und dass sich daher aus einer Verteilung der für das Pachtobjekt angefallenen Anschaffungs- und Herstellungskosten nach § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Satz 3 UStG eine jährliche Bemessungsgrundlage von 66.000 EUR für die Verpachtung ergebe. Hieraus ergab sich eine Umsatzerhöhung von 17.500 EUR im Streitjahr 2014 und von jeweils 21.000 EUR für die Streitjahre 2015 bis 2017. Das FA änderte dementsprechend die USt-Festsetzungen 2014 und 2015 durch die Bescheide vom 28.3.2018. Ebenso änderte das FA die Voranmeldungsfestsetzungen für Dezember 2016, Dezember 2017 und Januar 2018. Hiergegen legte der Kläger Einspruch ein. Während des Einspruchsverfahrens, das keinen Erfolg hatte, ergingen am 11.7.2018 und 16.5.2019 die USt-Jahresbescheide 2016 und 2017, die gemäß § 365 Abs. 3 AO zum Gegenstand des Einspruchsverfahrens wurden. Die hiergegen eingelegte Klage zum FG hatte Erfolg (Niedersächsisches FG, Urteil vom 26.11.2020, 11 K 12/20, Haufe-Index 14268219, EFG 2021, 975).
Entscheidung
Der BFH hob die Entscheidung der Vorinstanz wegen rechtsfehlerhafter Anwendung von § 176 AO auf und wies die Sache an das FG zurück.
Hinweis
1. Die in § 176 AO bezeichneten "Ereignisse" wie z.B. eine Änderung der BFH-Rechtsprechung oder die Bezeichnung einer dort genannten Verwaltungsvorschrift als nicht mit dem geltenden Recht in Einklang stehend durch den BFH müssen nach ständiger Rechtsprechung vor dem Erlass des Änderungsbescheids vorliegen, um eine Änderungssperre zu begründen.
§ 176 AO ist daher nicht anwendbar, wenn zunächst ein Änderungsbescheid ergeht und erst im Anschluss hieran die in dieser Vorschrift genannten Ereignisse vorliegen, die dann einen zuvor ergangenen der Änderungsbescheid nachträglich materiell-rechtlich legitimieren (so z.B. BFH, Urteil vom 20.12.2000, I R 50/95, BFH/NV 2001, 854, BStBl II 2001, 409). Der Leitsatz ruft dies in Erinnerung.
2. Ändert sich daher während eines Revisionsverfahrens über einen angefochtenen Änderungsbescheid die BFH-Rechtsprechung, ist nunmehr im Revisionsverfahren über die Rechtmäßigkeit des Änderungsbescheids nach Maßgabe der geänderten BFH-Rechtsprechung zu entscheiden, ohne dass dem § 176 AO entgegensteht. Auf dieser Grundlage war im Besprechungsfall zu beachten, dass der BFH mit seinem Beschluss vom 17.8.2023, V R 7/23 (V R 22/20), BFH/NV 2023, 1386, seine Rechtsprechung dahin gehend geändert hat, dass § 4 Nr. 12 Satz 2 UStG auch in Bezug auf die dort genannten Betriebsvorrichtungen kein Aufteilungsgebot enthält.