Rz. 96
Anforderungen an eine Rechtfertigung wegen Missbrauchs. Die durch § 50d Abs. 3 EStG bewirkte Beschränkung der Niederlassungsfreiheit kann prinzipiell gerechtfertigt werden. Dies stellt den entscheidenden Punkt bei der Prüfung des § 50d Abs. 3 EStG anhand der Grundfreiheiten dar. Eine Rechtfertigung setzt aber voraus, dass § 50d Abs. 3 EStG einen unionsrechtlich anerkannten zwingenden Grund des Allgemeininteresses verfolgt, zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet ist und nicht darüber hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist. Die Rechtfertigung der Altfassungen des § 50d Abs. 3 EStG war bereits Gegenstand zweier Entscheidungen des EuGH (s. Rz. 98 f.). Zuvor hatte der EuGH bereits zu einer vergleichbaren Regelung des französischen Rechts entschieden (s. Rz. 97).
Rz. 97
Rs. Eqiom und Enka. In der Rs. Eqiom und Enka v. 7.9.2017 hat der EuGH erstmalig die unionsrechtlichen Anforderungen an eine Anti-Treaty- bzw. Directive Shopping Regelung konturiert. Dem Verfahren lag eine Anti-Directive-Shopping-Regelung des französischen Rechts zugrunde. Hiernach wurde die Quellensteuerbefreiung nach der MTR versagt, wenn die Muttergesellschaft von in Drittstaaten ansässigen Personen kontrolliert wird und die Muttergesellschaft nicht nachweist, dass keiner der Hauptzwecke der Beteiligungskette in der Erlangung der Quellensteuerbefreiung nach der MTR besteht. Da der EuGH die Grundsätze der Rs. Equiom und Enka in der nachfolgenden Rs. Deister zum deutschen § 50d Abs. 3 EStG weiter ausdifferenziert hat, werden die Rechtsprechungsgrundsätze in der nachfolgenden Rz. 98 einheitlich dargestellt. Von besonderer Bedeutung ist die Rs. Eqiom und Enka aber auch deshalb, weil die dort streitgegenständliche Regelung einen ähnlichen Gegenbeweis enthielt wie ihn § 50d Abs. 3 Satz 2 EStG i.d.F. AbzStEntModG heute enthält (vgl. dazu Rz. 42, 122).
Rz. 98
Rs. Deister Holding und Juhler Holding. Mit Urteil vom 20.12.2017 hat der EuGH in der Rs. Deister Holding und Juhler Holding (nachfolgend "Rs. Deister") in Fortführung seiner Rechtsprechung in der Rs. Eqiom und Enka entschieden, dass § 50d Abs. 3 EStG i.d.F. JStG 2007 gegen Art. 49 AEUV und Art. 1 Abs. 2 i.V.m. Art. 5 Abs. 1 MTR (vgl. dazu Rz. 46 ff.) verstößt. Zunächst stellte der EuGH für den dort entschiedenen Sachverhalt fest, dass die § 50d Abs. 3 EStG i.d.F. JStG 2007 trotz Bestehens der MTR auch am Maßstab der primärrechtlichen Grundfreiheiten zu prüfen sei, da Art. 1 Abs. 2 MTR a.F. (vgl. heute Art. 1 Abs. 4 MTR) nur eine Erlaubnis zur Einfügung von Missbrauchsvermeidungsnormen enthielt und demzufolge keine abschließende Harmonisierung vorsah. Insoweit war § 50d Abs. 3 EStG i.d.F. JStG 2007 entsprechend den in Rz. 10 ff., 54 näher ausgeführten Grundsätzen sowohl anhand der MTR als auch der Grundfreiheiten zu überprüfen. Im entschiedenen Fall war nach Ansicht des EuGH allein die Niederlassungsfreiheit(und nicht die Kapitalverkehrsfreiheit)einschlägig, da § 50d Abs. 3 EStG keine Kontrollbeteiligung voraussetzte, diese aber im konkreten EU-Sachverhalt tatsächlich bestand (s. zur Abgrenzung Niederlassungsfreiheit vs. Kapitalverkehrsfreiheit ausf. Rz. 109 ff.). Durch § 50d Abs. 3 EStG werde – so der EuGH weiter – auch die Niederlassungsfreiheit beschränkt, da hiernach eine Entlastung von deutschen Abzugssteuern nur bei ausländischen Muttergesellschaften versagt werde. Deshalb könnten Gebietsfremde davon abgehalten werden, über eine deutsche Tochtergesellschaft im Inland wirtschaftlich tätig zu werden. Die Ungleichbehandlung betreffe auch objektivvergleichbare Situationen, da wegen der Ausübung der Besteuerungshoheit in Form des Quellensteuerabzugs auch gegenüber Gebietsfremden der Zweck der Vermeidung einer Doppelbesteuerung für beide Anteilseignergruppen gleichermaßen zutreffe. Der Kern der Entscheidung lag aber in den Ausführungen zur Rechtfertigung: Im Verfahren hat die Bundesrepublik als Rechtfertigungsgründe das Ziel der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und -umgehung sowie das Ziel der Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten angeführt. Dem Ziel der Wahrung einer ausgewogenen Aufteilung der Besteuerungsbefugnis begegnete der EuGH mit dem Hinweis darauf, dass die Aufteilung bereits sekundärrechtlich in der MTR i.S. eines Quellensteuerverbots geregelt sei. Für das Ziel der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und -umgehung stellte der EuGH zunächst fest, dass dieses als Rechtfertigungsgrund bei den Grundfreiheiten und in seiner Ausprägung in Art. 1 Abs. 2 MTR a.F. (heute Art. 1 Abs. 4 MTR) dieselbe Tragweite habe (s. zum einheitlichen Missbrauchsbegriff Rz. 26). Damit der Rechtfertigungsgrund der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und -umgehung eine bestimmte Regelung rechtfertigt, müssten aber folgende Voraussetzungen erfüllt sein (s. zu konzeptionellen Anforderungen auch ausf. Rz. 41 ff.):
- Das spezifische Ziel der nationalen Regelung muss darin liegen, rei...