I. Überblick
Rz. 45
Ausgangspunkt der unionsrechtlichen Prüfung. Bei der Suche nach dem einschlägigen unionsrechtlichen Prüfungsmaßstab für § 50d Abs. 3 EStG ist mit dem Sekundärrecht zu beginnen. Primärrechtskonforme Vorgaben des Sekundärrechts haben grundsätzlich Anwendungsvorrang gegenüber dem Primärrecht. Zudem kann in Bereichen abschließender Harmonisierung ein Rückgriff auf primärrechtliche Vorgaben ausgeschlossen sein, d.h. das Sekundärrecht kann unter bestimmten Voraussetzungen alleiniger Prüfungsmaßstab für das nationale Recht sein und vor einer Prüfung anhand der Grundfreiheiten abschirmen (vgl. allg. Rz. 10 ff.). S. für einen Überblick über den unionsrechtlichen Prüfungsmaßstab für § 50d Abs. 3 EStG Rz. 12 ff.
II. Mutter-Tochter-RL (EU-Fall)
Rz. 46
Bedeutung. Die Mutter-Tochter-Richtlinie (kurz: MTR) ist als Prüfungsmaßstab von Bedeutung, wenn die von § 50d Abs. 3 EStG erfassten Entlastungsansprüche eine Umsetzung von Art. 5 MTR darstellen. Das können Entlastungsansprüche nach § 43b EStG und vergleichbare Ansprüche aus DBA mit EU-Mitgliedstaaten sein (str., vgl. Rz. 51). Art. 5 MTR regelt die Zielvorgabe, dass die Mitgliedstaaten Dividenden einer EU-Muttergesellschaft an ihre EU-Tochtergesellschaft vom Steuerabzug an der Quelle zu befreien haben. Daraus folgt, dass Art. 5 MTR für § 50d Abs. 3 EStG nur in innerunionalen Fällen (für die relevanten Fallgruppen s. Art. 1 Abs. 1 MTR) als Prüfungsmaßstab in Betracht kommt: Versagt § 50d Abs. 3 EStG den Entlastungsanspruch nach § 43b EStG oder vergleichbaren DBA-Normen, verstößt dies grundsätzlich gegen Art. 5 MTR. Die Mitgliedstaaten dürfen nach ständiger Rechtsprechung des EuGH nämlich nicht einseitig restriktivere Maßnahmen einführen und den Anspruch nach Art. 5 MTR von weiteren Bedingungen abhängig machen. Da Art. 5 MTR unmittelbar anwendbar ist (vgl. Rz. 47), verdrängt er über den Anwendungsvorrang die Regelung des § 50d Abs. 3 EStG. Darauf kann sich der Steuerpflichtige berufen und die Entlastungsansprüche ohne Anwendung des § 50d Abs. 3 EStG geltend machen. Ein Verstoß gegen Art. 5 MTR liegt hingegen nicht vor, wenn (i) § 50d Abs. 3 EStG eine Umsetzung des Art. 1 Abs. 2 MTR darstellt, (ii) unter die Öffnungsklausel des Art. 1 Abs. 4 MTR fällt oder (iii) die Anwendung des Art. 5 MTR nach dem allgemeinen Grundsatz des Missbrauchsverbots ausgeschlossen ist (vgl. näher zu diesen Fallgruppen Rz. 53 ff.). Nimmt man zudem in (nach hier vertretener Ansicht unzutreffender, Rz. 52) Anknüpfung an die Rechtsprechung des EuGH in der Rs. T Danmark u.a. an, dass Art. 5 MTR unter dem ungeschriebenen Vorbehalt steht, dass der Empfänger der Dividenden auch der Nutzungsberechtigte ist, so verstößt § 50d Abs. 3 EStG auch im Falle fehlender Nutzungsberechtigung nicht gegen Art. 5 MTR.
Rz. 47
Unmittelbare Anwendbarkeit des Art. 5 MTR. Die Regelung des Art. 5 MTR erfüllt die Anforderungen für eine unmittelbare Anwendbarkeit. Der Steuerpflichtige könnte sich daher für eine Entlastung von deutscher Kapitalertragsteuer grundsätzlich unmittelbar auf Art. 5 MTR berufen. Soweit aber der Mitgliedstaat Art. 5 MTR ordnungsgemäß umgesetzt hat, ist vorrangig das nationale Umsetzungsrecht (§ 43b EStG, DBA) anzuwenden (vgl. Rz. 5). Nur soweit das nationale Recht hinter den Zielvorgaben des Art. 5 MTR zurückbleibt, kann sich der Steuerpflichtige unmittelbar auf die Rechte der MTR berufen und mit Anwendungsvorrang gegenüber entgegenstehendem nationalem Recht vor mitgliedstaatlichen Stellen durchsetzen. Das kann etwa den Fall betreffen, dass die Entlastung nach § 43b EStG oder nach einem DBA wegen § 50d Abs. 3 EStG versagt wird, während sie nach der MTR zu gewähren ist. Es ist aber zu beachten, dass der Anwendungsvorrang nur so weit reicht, wie die MTR unzureichend umgesetzt wurde. Hat der Mitgliedstaat die Richtlinie grundsätzlich umgesetzt, bleibt aber nur in Teilbereichen hinter den Zielvorgaben der Richtlinie zurück, kann sich der Steuerpflichtige nur zur Schließung dieser Lücke unmittelbar auf Art. 5 MTR berufen. Im Übrigen ist weiterhin das (insoweit unionsrechtskonforme) nationale Recht anzuwenden. Das ist etwa von Bedeutung, wenn der Mitgliedstaat in zulässiger Weise von Regelungsbefugnissen (z.B. Option, Wahlrechte etc.) der MTR Gebrauch gemacht hat, wie z.B. in § 43b EStG von der Möglichkeit der Einfügung einer Mindestbeteiligungsdauer. Deren Anwendung soll dem Mitgliedstaat auch erhalten bleiben, wenn der Steuerpflichtige sich wegen im Übrigen unzureichender Umsetzung unmittelbar auf Art. 5 beruft. Im Hinblick auf § 50d Abs. 3 EStG folgt daraus, dass dieser insoweit (teilweise oder vollständig) nicht anwendbar ist, als er gegen Art. 5 MTR verstößt (vgl. zu den ...