I. Systematik
Rz. 85
Überblick. Die Versagung eines Entlastungsanspruchs von deutschen Abzugssteuern über § 50d Abs. 3 EStG gerät in offenen Konflikt mit verschiedenen Grundfreiheiten des AEUV. Folgende Grundfreiheiten können hier im Einzelnen tangiert sein:
- Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV, s. Rz. 88 ff.)
- Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV, s. Rz. 102 ff.)
- Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 AEUV, s. Rz. 107 ff.)
Rz. 86
Verhältnis zu Richtlinien: Keine abschließende Harmonisierung. Die Regelung des § 50d Abs. 3 EStG bewegt sich im Harmonisierungsbereich verschiedener Richtlinien, namentlich der MTR, ZLR und der ATAD (vgl. zum Überblick Rz. 1). Nach hier vertretener Ansicht verpflichtet aber keine dieser Richtliniennormen zu einer diskriminierenden Missbrauchsvermeidung und bezwecken auch keine abschließende Harmonisierung (vgl. Rz. 54 zur MTR; Rz. 61 zur ZLR, Rz. 71 zur ATAD; s. aber Rz. 84 zur ATAD III-E). Auch wenn § 50d Abs. 3 EStG daher im Harmonisierungsbereich dieser Richtlinien steht, ist dessen diskriminierende Wirkung (vgl. Rz. 89 ff.) anhand der Grundfreiheiten zu prüfen und zu rechtfertigen.
Rz. 87
Verhältnis zum allgemeinen Grundsatz des Missbrauchsverbots. Der allgemeine Grundsatz des Missbrauchsverbots wirkt auf die Grundfreiheiten in der Weise ein, dass diese nicht missbräuchlich in Anspruch genommen werden können (vgl. Rz. 24). Nach den sog. Danish Cases dürfte die (bisher noch nicht abschließend geklärte) Frage wieder offen sein, ob das Missbrauchsverbot bereits die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten oder nur deren Rechtfertigung betrifft. Letztlich dürften sich beide Alternativen aber in der Sache nicht wesentlich voneinander unterscheiden, da der Grundsatz des Missbrauchsverbots auch unter dem Einfluss des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit steht (vgl. Rz. 25.1), wenn er bereits die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten ausschließt. Die Frage kann daher an dieser Stelle offenbleiben. Es dürfte aber davon auszugehen sein, dass der EuGH auch weiterhin den Missbrauch bei den Grundfreiheiten auf der Ebene der Rechtfertigung prüfen wird.
II. Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV)
1. Schutzbereich, Beschränkung
Rz. 88
Schutzbereichseröffnung. Für die Prüfung der Niederlassungsfreiheit ist zunächst von Bedeutung, ob sich die den Entlastungsanspruch geltend machende Körperschaft überhaupt auf die Niederlassungsfreiheit berufen kann. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen dem persönlichen und dem sachlichen Schutzbereich. Der persönliche Schutzbereich bei juristischen Personen (Körperschaften) ist in Art. 54 AEUV geregelt. Hiernach kann sich eine Körperschaft persönlich auf die Niederlassungsfreiheit nur berufen, wenn sie (kumulativ):
- nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründet wurde und
- ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder (= alternativ) ihre Hauptniederlassung (irgendwo) innerhalb der Union (nicht zwingend in ihrem Gründungs- oder Ansässigkeitsmitgliedstaat) hat.
Der in Art. 54 AEUV vorgesehenen Ausnahme für Körperschaften, die keinen Erwerbszweck verfolgen, kommt hingegen keine selbstständige Bedeutung zu, da jedenfalls auch der sachliche Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit nur eine Erwerbstätigkeit erfasst und beide Begriffe inhaltlich überreinstimmend ausgelegt werden. Ausgenommen sind daher nur Körperschaften, die ausschließlich einen rein karitativen oder sozialen Zweck verfolgen. Doch selbst wenn diese daneben eine Tätigkeit ausüben, die einen Niederlassungsvorgang i.S.d. Art. 49 AEUV darstellt, sind sie insoweit von der Niederlassungsfreiheit (auch persönlich) geschützt. Sachlich schützt die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 Abs. 2 AEUV die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen, insbesondere von EU-Gesellschaften i.S.d. Art. 54 AEUV. Die Niederlassungsfreiheit schützt also sachlich auch die Gründung und den Erwerb einer EU-Tochtergesellschaft sowie das Halten entsprechender Beteiligungen, sofern diese Beteiligungen nur die Möglichkeit eines Einflusses auf die Entscheidungen und Tätigkeiten der Gesellschaft vermitteln (sog. Kontrollbeteiligungen, zur Abgrenzung näher Rz. 109 ff.). Das "insbesondere" im Wortlaut des Art. 49 AEUV darf aber nicht dahin missverstanden werden, dass auch die Gründung und Leitung von Drittstaaten-Gesellschaften als Sekundärniederlassung von der Niederlassungsfreiheit geschützt ist. Die Tochtergesellschaft wird vielmehr im Kontext des Art. 49 AEUV als rechtlich verselbständigte Niederlassung verstanden, sodass diese sich auch territorial innerhalb der EU befinden muss. Jedoch kann eine mit der Leitung von Drittstaa...