Rz. 21
Zinsanspruch bei unionsrechtswidrig erhobenen bzw. nicht erstatteten Steuern. Wurden Steuern unter Anwendung unionsrechtswidriger nationaler Rechtsnormen erhoben, so ergibt sich nach der Rspr. des EuGH für den Steuerpflichtigen unmittelbar aus dem Unionsrecht (s. aber auch § 50c Abs. 4 EStG) nicht nur ein Anspruch auf Erstattung dieses Steuerbetrags, sondern auch ein Anspruch auf dessen Verzinsung. Dem Steuerpflichtigen sind nämlich auch die aus einem Unionsrechtsverstoß (kausal bzw. zurechenbar) resultierenden Liquiditätsnachteile zu ersetzen, die aufgrund der Nichtverfügbarkeit der zu Unrecht gezahlten bzw. nicht erstatteten Steuern entstanden sind. In Ermangelung unionsrechtlicher Vorschriften richten sich – unter Beachtung des Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatzes – die Bedingungen für die Zahlung solcher Zinsen, insbesondere der Zinssatz und die Methode für die Berechnung der Zinsen, nach nationalem Recht. Um den Liquiditätsnachteil effektiv auszugleichen, ist nach der Rechtsprechung des EuGH und BFH die Verzinsung nach dem Effektivitätsgrundsatz grundsätzlich auf den Zeitraum zwischen Zahlung der zu Unrecht erhobenen Steuer und deren Erstattung zu beziehen. Nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten richtet sich ferner die Durchsetzung dieses Anspruchs nach dem innerstaatlichen (Verfahrens-)Recht. Der VII. Senat des BFH hat diese Rechtsprechung des EuGH (in Abweichung von der früheren Rechtsprechung des I. Senats) nunmehr anerkannt. Das FG Köln hat mit Urteil vom 30.6.2020 schließlich (erstmals) auch für auf der Grundlage des § 50d Abs. 3 EStG i.d.F. BeitrRLUmsG zu Unrecht nicht erstattete Kapitalertragsteuer einen unmittelbar auf Unionsrecht gestützten Anspruch auf Erstattung von Zinsen angenommen. Es hat dabei auf die allgemein gültigen Verzinsungsmodalitäten zurückgegriffen und dem Steuerpflichtigen nach § 238 Abs. 1 AO eine Verzinsung i.H.v. 0,5 % für jeden Monat (6 % p.a.) zugesprochen. Das FG Köln hat diese Rechtsprechung mit Urteil vom 17.11.2021 bestätigt und hinsichtlich der in seinem Urteil vom 30.6.2020 noch unklaren Aussagen zum Beginn des Verzinsungszeitraums durch eine differenzierte Lösung präzisiert, die für den Beginn des Verzinsungszeitraums im Ergebnis (zutreffend) auf den den Unionsrechtsverstoß begründenden Umstand abstellt und damit den Zinsanspruch auf diejenigen Liquiditätsnachteile beschränkt, die kausal bzw. zurechenbar auf den Unionsrechtsverstoß zurückzuführen sind:
Rz. 21.1
Der Zinslauf soll demnach mit dem Zeitpunkt des Steuereinbehalts beginnen, sofern dem Steuerpflichtigen eine Freistellungsbescheinigung erteilt wurde, diese von der FinVerw aufgrund des unionsrechtswidrigen § 50d Abs. 3 EStG zurückgenommen wird und daraufhin ein Steuereinbehalt erfolgt. Der Unionsrechtsverstoß liegt hier in der Rücknahme der Freistellungsbescheinigung aufgrund des unionsrechtswidrigen § 50d Abs. 3 EStG, infolgedessen bereits die Erhebung der Abzugsteuer unionsrechtswidrig ist (Fallgruppe der unionsrechtswidrig erhobenen Steuer).
Rz. 21.2
Wird hingegen ohne Nutzung des Freistellungsverfahrens eine nachträgliche Erstattung durch Freistellungsbescheid beantragt, so soll der Zinslauf erst nach einer angemessenen Prüfungsfrist von 4 Monaten und 10 Arbeitstagen für die FinVerw beginnen. Dabei dürfte die Prüfungsfrist erst ab dem Zeitpunkt eines ordnungsgemäßen und vollständigen Antrags zu laufen beginnen. Das FG stützt sich dafür auf die Unionsrechtskonformität des Erstattungsverfahrens nach § 50c Abs. 3 EStG und überträgt insoweit die Rspr. des VII. Senats des BFH zur Erstattung von Stromsteuerbeträgen. Bejaht man die Unionsrechtskonformität des Erstattungsverfahrens nach § 50c Abs. 3 EStG und beantragt der Steuerpflichtige eine solche nachträgliche Erstattung, so sind die (vorläufige) Erhebung der Steuer und die dadurch eingetretenen Liquiditätsnachteile grundsätzlich unionsrechtskonform und erst die Versagung der nachträglichen Erstattung aufgrund des unionsrechtswidrigen § 50d Abs. 3 EStG stellt den Unionsrechtsverstoß dar. Es handelt sich also nicht um unionsrechtswidrig erhobene Steuern, sondern um die Fallgruppe der unionsrechtswidrig nicht erstatteten Steuern. Zur (unionsrechtswidrigen) Versagung eines Antrags auf Freistellung, s. Rz. 21.3. Dem Steuerpflichtigen sind nur die (unionsrechtswidrigen) Liquiditätsnachteile zu ersetzen, die er gerade aufgrund des Unionsrechtsverstoßes (Versagung aufgrund § 50d Abs. 3 EStG) erlitten hat, nicht hingegen die (unionsrechtskonformen) Liquiditätsnachteile, die auch bei unionsrechtskonformem Verhalten der Behörde angefallen wären (d.h. bei Erstattung unter Beachtung des i.Ü. unionsrechtskonformen Verfahrens nach § 50c EStG). Ob aber gerade die Prüfungsfrist von 4 Monaten und 10 Arbeitstagen auf den Fall der Erstattung von Abzugsteuerbeträgen übertragen werden kann, erscheint zweifelhaft, weil der BFH sich ...