I. Allgemeines
Rz. 6
Entsprechend dem erklärten Ziel des 2. AOStrafÄndG stand der frühere Gesetzgeber vor der in der Rechtslehre heftig umstrittenen Frage, wie das Wesen der bloßen Ordnungswidrigkeit zu umreißen ist. Da es sich dabei nicht um eine spezifisch steuerstrafrechtliche Materie handelt, genügen an dieser Stelle einige Hinweise auf die diskutierten Möglichkeiten der Abgrenzung. Im Wesentlichen stehen sich zwei Theorien gegenüber: die Aliud- oder qualitative und die quantitative Theorie.
Nach der (vornehmlich unter der Geltung des OWiG 1956 vertretenen) Aliud-Theorie soll eine wesensmäßige Abgrenzung möglich sein. Die Ordnungswidrigkeit erschöpfe sich in einer Unbotmäßigkeit gegenüber der Verwaltungsbehörde, ohne über den Raum der verwaltungsmäßigen Interessen hinaus eine Störung hervorzurufen. Außerdem sei den echten Kriminaldelikten ein sozialethisches präexistentes Unwerturteil eigen, während das von der Ordnungswidrigkeitsvorschrift geforderte Verhalten wertfrei und nur von Zweckmäßigkeitserwägungen bestimmt sei.
Rz. 7
Mit der stetigen Fortentwicklung des Ordnungswidrigkeitenrechts, das zunehmend nicht nur die Sanktionierung bloßen Verwaltungsungehorsams zum Inhalt hat, sondern darüber hinaus auch präventivem und repressivem Rechtsgüterschutz dient, hat sich vermehrt die sog. quantitative Theorie durchgesetzt. Nach ihr ist eine wesensmäßige Unterscheidbarkeit abzulehnen. Es handele sich bei der Ordnungswidrigkeit nur um Bagatellfälle des allgemeinen Strafrechts, ein wesensgleiches Minus, das nur durch die Schwere der Rechtsgutverletzung abgegrenzt werde. Eine klare Grenzlinie zu ziehen, sei ebenso wenig möglich wie bei der Unterscheidung zwischen Vergehen und Verbrechen. Ob ein Tatbestand der einen oder der anderen Kategorie zuzuordnen sei, hänge immer von dem Ergebnis einer kriminalpolitischen Entscheidung des Gesetzgebers ab.
Rz. 8
Der Gesetzgeber lehnte sich an die Entscheidungen des BVerfG an, das im Hinblick auf die Art der angedrohten Rechtsfolge die Ordnungswidrigkeit gegenüber der Straftat als "aliud" einstuft. Danach liegt eine Straftat vor, wenn die Tat mit Kriminalstrafe bedroht wird, eine Ordnungswidrigkeit, wenn die Tat mit Geldbuße geahndet werden kann. Welche Sanktion im Einzelfall verhängt werde, stehe grds. im Ermessen des Gesetzgebers. Lediglich der sog. "Kernbereich des Strafrechts", das sind "alle bedeutsamen Unrechtstatbestände", könne der Rspr. vom Gesetzgeber nicht entzogen werden, da dieser unter der Garantie des Art. 92 GG stehe und der Rspr. vorbehalten bleiben müsse. Eine Vorentscheidung durch Verwaltungsbehörden sei hier unzulässig. Alle weniger wichtigen und bedeutsamen Tatbestände könnten dagegen in Ordnungswidrigkeiten umgewandelt und dem Verwaltungsvorverfahren unterworfen werden.
Rz. 9
Zusammenfassend lässt sich für die Abgrenzungsproblematik festhalten:
- Eine wesensmäßige qualitative Abgrenzung der Ordnungswidrigkeit von der Straftat ist nicht möglich.
- Die Einordnung der Verfehlung hängt davon ab, ob sie mit Kriminalstrafe (dann Straftat) oder mit Geldbuße (dann Ordnungswidrigkeit) bedroht ist.
- Welche Sanktion angedroht wird, steht grds. im kriminalpolitischen Ermessen des Gesetzgebers; lediglich im sog. Kernbereich des Strafrechts bedarf es der Strafe als Sanktion.
- Zum Kernbereich des Strafrechts gehören jedenfalls alle Tatbestände, die nach dem StGB mit Strafe bedroht sind.
II. Umwandlung von Steuervergehen in Steuerordnungswidrigkeiten nach dem 2. AOStrafÄndG
Rz. 10
Bei der Abgrenzung der bedeutsamen Unrechtstatbestände, die den Kernbereich des Strafrechts bilden, von den weniger bedeutsamen orientierte sich der Gesetzgeber an folgendem Maßstab: Nur solche Verfehlungen sollten mit Strafe bedroht werden, die mit solchen Straftaten vergleichbar sind, die auch nach dem Entwurf 1962 des StGB mit Strafe bedroht waren.
Rz. 11
Für die Umwandlung der leichtfertigen Steuerverkürzung in eine Ordnungswidrigkeit (§ 404 AO 1968, heute § 378 AO) war vor allem maßgebend, dass das StGB bis dahin keine fahrlässig begehbaren Vermögensdelikte kannte. Dennoch ist gerade diese kriminalpolitische Entscheidung auf Widerstand gestoßen. Man hatte vor allem geltend gemacht, dass die leichtfertige Steuerverkürzung praktisch die häufigste Steuerverfehlung sei und der durch sie hervorgerufene Nachteil für das Steueraufkommen ebenso groß sein könne wie bei einer vorsätzlich begangenen Steuerverkürzung. Außerdem sei gerade die Grenze zwischen bedingtem Vorsatz (§ 370 AO) ...