Dipl.-Finw. (FH) Helmut Lehr
Leitsatz
Der Vorsteuerabzug ist aus materiellen Gründen zu versagen, wenn "feststeht", dass der Steuerpflichtige wusste oder wissen konnte bzw. hätte wissen müssen, dass er sich mit dem Warenbezug an einem Umsatzsteuerkarussell "beteiligt" hat.
Sachverhalt
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin im Streitjahr 2012 ein Recht zum Vorsteuerabzug zusteht. Die Klägerin ist Insolvenzverwalterin über das Vermögen der Firma N GmbH (Insolvenzschuldnerin). Die Insolvenzschuldnerin nahm im August 2012 den Geschäftsbetrieb auf. Als Unternehmenszweck wurden die Analyse, das Schmelzen und der Handel von bzw. mit Hart-, Bunt- und Sondermetallen sowie Edelmetallen angegeben und ins Handelsregister eingetragen. Gesellschafter zu je 50 % waren die Rechtsanwälte B und K. Das Finanzamt kürzte Vorsteuerbeträge aus den Rechnungen der Firma X GmbH um rund 835.000 EUR. Aufgrund Ermittlungen der Steuerfahndung und Zeugenaussagen war man seitens des Finanzamtes der Auffassung, dass die X GmbH als Strohmann zwischengeschaltet worden ist, um den wirklichen Lieferer zu verdecken. Konkret ging es um Silbergranulat-Lieferungen, deren Übergabe offenbar jeweils von Kofferraum zu Kofferraum stattgefunden haben soll.
Entscheidung
Die Klage hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht sah zwar die formellen Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug grundsätzlich als erfüllt an. Demnach genüge auch der in den Rechnungen angegebene offenkundige Briefkastensitz des "Lieferanten" X GmbH, der über eine Serviceagentur unterhalten wurde. Allerdings war der Vorsteuerabzug aus materiellen Gründen zu versagen. Das Finanzgericht gelangte nämlich aufgrund zahlreicher Indizien zu der Überzeugung, dass die N GmbH bzw. deren Geschäftsführer erkennen musste(n), dass es sich bei der X GmbH um einen klassischen sog. Buffer I im Rahmen eines Umsatzsteuerkarussellbetrugs gehandelt haben musste. Somit hätte die N GmbH wiederum wissen können bzw. wissen müssen, dass sie sich mit dem Erwerb an einem Umsatz beteiligte, der in eine Umsatzsteuerhinterziehung einbezogen war.
Von einer ganzen Reihe der offenbar vorliegenden Indizien seien hier nur einige genannt:
- Bereits die Art und Weise der angeblichen Übergabe des Silbergranulats an die X GmbH (von Kofferraum zu Kofferraum) spreche gegen eine Lieferung eines Gewerbetreibenden an einen anderen.
- Aufgrund des beruflichen Hintergrunds der Gesellschafter-Geschäftsführer der N GmbH und wegen der im Rahmen der Durchsuchung aufgefundenen Unterlagen (Zeitungsbericht über Umsatzsteuerbetrug durch Silberhandel und Zwischenbericht der Steuerfahndung über die Fahndungsprüfung bei einem Vorlieferanten), musste ein erhebliches Problembewusstsein im Hinblick auf den Umsatzsteuerbetrug im Edelmetallhandel bestanden haben.
- Untermauert werde dies dadurch, dass die Insolvenzschuldnerin umfangreiche Unterlagen von ihren Lieferanten (wie zum Beispiel Unbedenklichkeitsbescheinigungen und Umsatzsteuervoranmeldungen) angefordert hat.
- Bis zum Beginn der Geschäftsbeziehung mit der Insolvenzschuldnerin hatte die X GmbH keine Ausgangsumsätze erzielt. Danach war die Insolvenzschuldnerin die einzige Kundin. Trotz dieser Umstände wurden innerhalb von nur fünf Monaten Umsätze in Höhe von mehr als 5 Mio. EUR abgewickelt.
- Ohnehin sei es schon sehr fraglich, warum überhaupt die Insolvenzschuldnerin in diesen Handel eingeschaltet worden ist und die eigentlichen Lieferanten nicht direkt an die Scheideanstalten geliefert haben. Der einzig nachvollziehbare Grund für eine Zwischenschaltung der Insolvenzschuldnerin bestand offenbar darin, die Herkunft der Ware zu verschleiern und einen (weiteren) "Buffer" (sog. Buffer II) zum Zwecke der Begehung eines Umsatzsteuerkarussellbetrugs einzuschalten.
- Die Insolvenzschuldnerin war aufgrund ihres Auftretens (tatsächliche Geschäftsräume mit Sekretariat und Festnetzanschluss, eigene Internetdomain, zwei Rechtsanwälte als Geschäftsführer, höheres Lebensalter der Geschäftsführer) aus Sicht der Scheideanstalten wohl deutlich seriöser als die X GmbH.
Hinweis
Die Entscheidung über den Vorsteuerabzug in solchen bzw. ähnlichen Sachverhalten hängt natürlich sehr stark vom konkreten Einzelfall ab und insbesondere von den Ermittlungsergebnissen der in der Regel eingeschalteten Steuerfahndung. Nach der jüngeren BFH-Rechtsprechung kann einem Unternehmer in der Lieferkette der Vorsteuerabzug (oder zum Beispiel die Steuerbefreiung für grenzüberschreitende Lieferungen) aufgrund eines Steuerbetrugs einer anderen Person in der Lieferkette nur dann versagt werden, wenn dem betreffenden Unternehmer ein Umsatzsteuerbetrug tatsächlich nachgewiesen wurde. Das bloße Nichtabführen von Umsatzsteuer reicht gerade nicht aus, um von einem Steuerbetrug ausgehen zu können (BFH, Urteil v. 3.7.2019, XI B 17/19). Die Feststellungslast trägt insoweit das Finanzamt (BFH, Urteil v. 11.3.2020, XI R 38/18). Im Zusammenhang mit der Versagung des Vorsteuerabzugs wegen Betrugs in einer Lieferkette hat sich das Finanzgericht Berlin-Brandenburg an den EuGH, Az be...