Prof. Dr. Stefan Müller, Prof. Dr. Markus Häfele
Rz. 35
Vielfach wird das Realisationsprinzip als eine Ausprägung des allgemeinen Vorsichtsprinzips interpretiert. Die Ursache dafür mag darin liegen, dass die Gesetzesformulierung: "Gewinne sind nur zu berücksichtigen, wenn sie am Abschlussstichtag realisiert sind" bei den allgemeinen Bewertungsgrundsätzen des § 252 HGB lokalisiert ist. Diese gesetzestechnische Handhabung erweckt den Eindruck, als würde sich der darin verankerte Realisationsgrundsatz auf die Erfolgsbeiträge beziehen, die auf Wertsteigerungen bei den bereits vorhandenen Vermögensgegenständen zurückzuführen sind. Das Realisationsprinzip kann sich logischerweise nicht auf die Fälle gegenstandsindividueller Wertsteigerungen beziehen, da derartige "Gewinne" – mit Ausnahme der gesetzlich ausdrücklich zugelassenen Wertaufholungen – aber schon aufgrund des Imparitätsprinzips ausgeschlossen sind.
"Gewinnrealisation" als Bilanzierungsprinzip ist für die Beantwortung der Frage heranzuziehen, ob und wann ein – im Normalfall in den Veräußerungspreis einkalkulierter – Gewinn als verwirklicht betrachtet werden kann. Obwohl sich Gewinn tatsächlich erst im Zufluss baren Geldes, und zwar in inländischer Währung, real niederschlägt, kann diese Bedeutung von Gewinnrealisierung mit dem Gesetzeswortlaut des § 252 Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbsatz HGB, nicht oder nicht ausschließlich gemeint sein. Gewinnrealisierung als ein Problem bilanzieller Gewinnermittlung (bzw. Gewinnabgrenzung) ist vielmehr in dem Sinne zu verstehen, dass ein Gewinn durch den Bilanzansatz einer Vermögensposition, der Kundenforderung, als realisiert gelten soll.
Rz. 36
Die Eigenart bilanzieller Gewinnermittlung besteht darin, dass die Ausschüttungsfähigkeit von Gewinn nicht unmittelbar an geldliche Zuflüsse (Entgelteinzahlungen), sondern vielmehr an Wertgrößen anknüpft, denen eine gewinnrealisierende Geltung zugesprochen wird. Der bilanzielle Gewinn gilt als realisiert durch den der Veräußerung zugrunde liegenden Kontrakt und seine seitens des Lieferers erbrachte Leistung. Bilanzierungstechnisch stellt sich dann die Frage, zu welchem Zeitpunkt die den Gewinnaufschlag einschließende Forderung als entstanden anzusehen und bilanziell auszuweisen ist. Bei Versendungskäufen ist dies in der Regel der Zeitpunkt, zu dem die Preisgefahr auf den Käufer übergeht.
Rz. 37
Diese Bestimmung des Realisationszeitpunktes ist für die Währungsumrechnung von Bedeutung, denn der bilanzierungsrelevante Veräußerungszeitpunkt ist für die Festlegung des Umrechnungskurses maßgebend. Danach auftretende Kursminderungen schlagen sich dann erst im Zeitpunkt des Devisenzuflusses erfolgswirksam nieder. Denn dieser ist dann wieder – soweit er nicht sofort in EUR eingetauscht, sondern als Devisenbestand zu bilanzieren ist – als eigenständiger Vermögensgegenstand zu bewerten.