Leitsatz
Auch wenn nach unionsrechtlichen Vorgaben in Verbindung mit dem sogenannten Freizügigkeitsabkommen der Europäischen Union und der Schweiz bei einem im Jahr 2011 erfolgten Wegzug in die Schweiz die im Wegzugszeitpunkt entstehende nationale Steuer auf den Vermögenszuwachs (Wegzugsteuer) dauerhaft und zinslos zu stunden ist (Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union Wächtler vom 26.02.2019 – C‐581/17, EU:C:2019:138, Internationales Steuerrecht 2019, 260), hindert dies die Festsetzung der Steuer nicht.
Normenkette
§ 6 Abs. 1, 4 und 5 AStG, EGFreizügAbk Schweiz
Sachverhalt
Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und seit 2008 Geschäftsführer der … GmbH mit Sitz in der Schweiz. An dieser GmbH ist er seit Gründung der Gesellschaft (im Juli 2007) zu 50 % beteiligt. Im Streitjahr war der Kläger zwar verheiratet, beantragte aber eine getrennte Veranlagung zur ESt.
Im März 2011 verzog er in die Schweiz, wo er seitdem wohnhaft ist. Das FA informierte den Kläger, dass es in Folge des Umzugs einen steuerpflichtigen fiktiven Gewinn gemäß § 6 Abs. 1 AStG i.H.v. … EUR ansetzen werde. Der Kläger wies darauf hin, dass eine Besteuerung nicht mit dem zwischen der EU und der Schweiz abgeschlossenen Freizügigkeitsabkommen (FZA) in Einklang stehe. Die Besteuerung nicht realisierter stiller Reserven sei geeignet, eine Person vom Wegzug in die Schweiz abzuhalten. Deutschland habe es versäumt, für den Bereich des FZA eine der Stundungsregelung des § 6 Abs. 5 AStG entsprechende Regelung vorzusehen. Daher finde die Wegzugsbesteuerung keine Anwendung.
Das FA blieb indes bei seiner Meinung und berücksichtigte schließlich in einem geänderten ESt-Bescheid vom 30.1.2015 einen fiktiven Veräußerungsgewinn.
Mit der Einspruchsentscheidung reduzierte das FA die ESt aus nicht im Streit stehenden Gründen erneut auf nunmehr … EUR. Im Übrigen wies das FA den Rechtsbehelf als unbegründet zurück. Der Kläger zahlte die Wegzugsteuer während des Verfahrens "vorläufig" und hat keine Stundung mehr beantragt.
Im Rahmen des Klageverfahrens richtete das FG ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH, über das dieser mit Urteil Wächtler (EuGH, Urteil vom 26.2.2019, C‐581/17, Wächtler, EU:C:2019:138, BFH/NV 2019, 511) entschieden hat.
Das FG gab der Klage statt (FG Baden-Württemberg, Außensenate Freiburg, Gerichtsbescheid vom 31.8.2020, 2 K 835/19, Haufe-Index 14204772).
Entscheidung
Die Revision des FA gegen die klagestattgebende Entscheidung des FG war erfolgreich. Wegen der Gründe kann auf die Praxis-Hinweise verwiesen werden.
Hinweis
1. Die Wegzugsbesteuerung gemäß § 6 AStG stellt insofern eine Härte dar, als ohne Veräußerung der Beteiligung allein durch die Wohnsitzverlagerung ins Ausland und das damit verbundene Ende der unbeschränkten ESt-Pflicht ein fiktiver Veräußerungsgewinn i.S.d. § 17 EStG ausgelöst wird, der grundsätzlich im Wegzugsjahr zu versteuern ist.
Bereits seit vielen Jahren wird intensiv diskutiert, ob eine solche Besteuerung mit den europäischen Grundfreiheiten zu vereinbaren ist. Die "Diskriminierung" des Auslandssachverhalts gegenüber einem Inlandssachverhalt lässt sich an einem einfachen Beispiel gut illustrieren: Zieht ein Steuerpflichtiger, der i.S.d. § 17 EStG eine Beteiligung hält, von Süd- nach Norddeutschland, dann passiert nichts. Verlegt er seinen Wohnsitz von Süddeutschland in die Schweiz oder nach Österreich, dann muss er einen fiktiven Veräußerungsgewinn versteuern. In beiden Fällen hat der Steuerpflichtige lediglich von seinem grundrechtlich bzw. grundfreiheitsrechtlich verbrieften Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht. Es liegt auf der Hand, dass der EuGH bei Wegzügen ins EU-Ausland bereits wiederholt mit der Problematik befasst war. Der deutsche Gesetzgeber passte daraufhin § 6 AStG wiederholt an die EuGH-Rechtsprechung an.
2. Im Streitfall fand ein Wegzug in die Schweiz statt. Für EU-Wegzüge galt im Streitjahr eine Fassung des § 6 AStG, die auf EuGH-Rechtsprechung zurückging und günstig für den Steuerpflichtigen war: Wegzugssteuer durfte danach zwar festgesetzt werden, jedoch war diese dauerhaft und zinslos bis zu einer künftigen Veräußerung der Beteiligung zu stunden.
Bei Wegzügen in die Schweiz sah das Gesetz indes eine Steuerfestsetzung ohne Stundungsmöglichkeit vor. Der Kläger rief daher das FG an, das wiederum den EuGH einschaltete. Der EuGH entschied sodann zur Vereinbarkeit des § 6 AStG mit dem Freizügigkeitsabkommen, das die EU mit der Schweiz abgeschlossen hatte. Bei der Besprechungsentscheidung des BFH handelt es sich also um das Schlussurteil.
3. Der BFH, der an das EuGH-Urteil gebunden ist, urteilte im Wesentlichen wie folgt:
a) Nach dem EuGH-Urteil ist auch bei Wegzügen in die Schweiz eine dauerhafte und zinslose Stundung zu gewähren. § 6 AStG in der im Streitjahr geltenden (Alt-)Fassung ist daher grundsätzlich als unionsrechtswidrig zu qualifizieren.
b) Entgegen der Vorinstanz folgt daraus jedoch nicht, dass bereits die Steuerfestsetzung rechtwidrig ist. Vielmehr ist § 6 AStG bei Wegzügen in die Schweiz geltu...