Birthe Kramer, Dietrich Weilbach
Rz. 89
Nach § 1 Abs. 3 Nr. 1 bis 4 GrEStG wird für alle ab dem 1.7.2021 verwirklichten Erwerbsvorgänge eine Grunderwerbsteuerpflicht bereits dann ausgelöst, wenn unmittelbar oder mittelbar mindestens 90 % der Anteile einer Gesellschaft in einer Hand vereinigt (bzw. in der Hand von herrschenden und abhängigen Unternehmen oder abhängigen Personen oder in der Hand von abhängigen Unternehmen oder abhängigen Personen allein) oder auf einen anderen Rechtsträger übertragen werden bzw. übergehen. Damit hat der Gesetzgeber die Hürde, die zwecks Vermeidung der Steuerpflicht aus § 1 Abs. 3 GrEStG übersprungen werden muss, merklich angehoben. Denn im Gegensatz zur früheren Rechtslage lässt sich die Grunderwerbsteuer bei Anteilsübertragungen nach § 1 Abs. 3 GrEStG nunmehr nur vermeiden, wenn mehr als 10 % der Anteile an der Gesellschaft zurückbehalten oder ggf. vorab auf einen fremden Dritten übertragen werden, was häufig schon aus ertragsteuerlichen oder gesellschaftsrechtlichen Gründen nicht zweckmäßig erscheinen dürfte.
Nach der vor Inkrafttreten des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 geltenden Fassung des § 1 Abs. 3 GrEStG führte nur die Vereinigung aller Anteile an einer Gesellschaft in einer Hand (bzw. in der Hand von herrschenden und abhängigen Unternehmen oder abhängigen Personen oder in der Hand von abhängigen Unternehmen oder abhängigen Personen allein) sowie die Übertragung bzw. der Übergang aller Anteile an einer Gesellschaft zur Grunderwerbsteuer. Die Vereinigung nur nahezu aller Anteile an einer Gesellschaft in einer Hand oder die Übertragung bzw. der Übergang nur nahezu aller Gesellschaftsanteile löste nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs selbst dann keine Grunderwerbsteuer aus, wenn der verbleibende Zwerganteil wirtschaftlich bedeutungslos war (vgl. BFH v. 16.3.1966, BStBl III 1966, 254, und BFH v. 31.7.1991, BFH/NV 1992, 57). Ein Missbrauch rechtlicher Gestaltungsmöglichkeiten i. S. v. § 42 AO konnte insoweit, von wenigen Ausnahmen abgesehen (z. B. Scheingeschäft oder Restanteil wird treuhänderisch gehalten), nicht angenommen werden.
Der Tatbestand des § 1 Abs. 3 (Nr. 1 und 2) GrEStG kann dann nicht verwirklicht werden, wenn eine bereits bis 31.12.1999 bestehende Beteiligung von 90 % oder mehr an einer Gesellschaft nach diesem Zeitpunkt teilweise (auf eine Beteiligung von mehr als 90 % bis nahezu 100 %, vgl. FG München v. 24.10.2018, 4 K 1101/15, EFG 2019, 65) oder ganz (auf 100 %) aufgestockt wird. Grund dafür ist, dass am 1.1.2000 (Anwendungszeitpunkt der Neuregelung des § 1 Abs. 3 GrEStG) die Anteilsvereinigung in Höhe von 90 % bereits eingetreten war und durch den Erwerb eines weiteren Anteils nicht noch einmal der Tatbestand des § 1 Abs. 3 GrEStG verwirklicht wird. Dies gilt auch für etwaige nach dem Überschreiten der 90 %-Grenze hinzuerworbene Grundstücke (vgl. Tz. 1 der gleich lautenden Ländererlasse v. 2.12.1999 zur Anwendung des § 1 Abs. 3 GrEStG in der Fassung der Bekanntmachung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002, BStBl I 1999, 991, und das zum früheren Berliner GrEStG ergangene Urteil (BFH v. 23.3.1977, BStBl II 1977, 565). Dies gestattet in manchen Fällen eine grunderwerbsteuerrechtlich irrelevante Bereinigung von Beteiligungsverhältnissen bei grundbesitzenden Gesellschaften, an denen bis Ende 1999 Zwerganteile (5 % oder weniger) gehalten worden sind. Hatte z. B. eine Gesellschaft Ende 1999 bereits 98,5 % der Anteile an einer anderen Gesellschaft mit Grundbesitz gehalten und erwirbt sie im Jahr 2000 oder später die restlichen Anteile hinzu, so löst dieser Vorgang keine Grunderwerbsteuer mehr aus.
Eine Steuerpflicht trat früher selbst dann nicht ein, wenn z. B. erst kurze Zeit vor dem 1.1.2000 mindestens 95 % – aber nicht alle – Anteile an einer Gesellschaft in einer Hand vereinigt oder übertragen worden sind und die Vereinigung auch der Restanteile bzw. deren Übertragung nach dem 31.12.1999 erfolgt. Da die Motive der Beteiligten im Zusammenhang mit der Anwendung des § 1 Abs. 3 GrEStG ohne Bedeutung sind und der gesetzliche Tatbestand ausschließlich an objektive Merkmale anknüpft, kann es selbst auf eine etwaige Steuerumgehungsabsicht der Beteiligten nicht ankommen (vgl. BFH v. 22.6.1966, II 165/62, BStBl III 1966, 554).