Ein aktueller Rechtsprechungsüberblick
[Ohne Titel]
StB Dipl.-Fw. Karl-Heinz Günther
Werden steuerrechtliche Fristen versäumt, kommt nach § 110 AO bzw. § 56 FGO eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht. Diese Vorschriften lassen eine Wiedereinsetzung nur unter relativ engen Voraussetzungen zu. Angehörigen der steuerberatenden Berufe obliegt bei der Fristenwahrung eine erhöhte Sorgfaltspflicht. Der Beitrag gibt neben einer Einführung in die gesetzlichen Voraussetzungen einen Überblick über die aktuelle Rechtsprechung.
I. Problemstellung
Steuerpflichtige müssen im Steuerrecht zahlreiche Handlung- und Erklärungsfristen beachten, um gegenüber der Finanzverwaltung ihre Rechte wahren zu können. In der Besteuerungspraxis betrifft dies insb. die Einspruchsfrist (§ 355 AO) sowie weitergehend im gerichtlichen Verfahren die Klagefrist (§ 47 FGO), die Revisionsfrist (§ 120 FGO) sowie die Beschwerdefrist zur Zulassung der Revision (§ 116 AO).
Werden steuerrechtliche Handlungs- oder Erklärungsfristen versäumt, kommt unter den Voraussetzungen des § 110 AO eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht, bei Versäumung einer Frist im gerichtlichen Verfahren greift die § 110 AO nachgebildete Vorschrift des § 56 FGO. Obwohl die Bedeutung der Wahrung steuerlicher und gerichtlicher Fristen hinlänglich bekannt ist und immer wieder zur rechtzeitigen Fristwahrung geraten wird, führen Wiedereinsetzungsanträge wegen versäumter Fristen oft zu gerichtlichen Entscheidungen, denn § 110 AO und § 56 FGO lassen eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur unter relativ engen Voraussetzungen zu. Dies betrifft nicht nur Steuerpflichtige, die ihre steuerlichen Angelegenheiten selbst regeln, sondern auch Angehörige der steuerberatenden Berufe, denen insoweit eine erhöhte Sorgfaltspflicht obliegt. Der Beitrag gibt – nach einer kurzen Einführung in die gesetzlichen Voraussetzungen des § 110 AO – einen Überblick über die hierzu ergangene aktuelle Rechtsprechung.
II. Gesetzliche Grundlagen
War jemand ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, so ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 110 Abs. 1 S. 1 AO). Die Regelung erfasst nur verfahrensrechtliche und materiell-rechtliche Fristen, d.h. Handlungs- und Erklärungsfristen, die Beteiligte (§ 78 AO) oder Dritte gegenüber der Finanzbehörde zu wahren haben. Nicht wiedereinsetzungsfähig sind dagegen die gesetzlichen Fristen, die von den Finanzbehörden zu beachten sind, z.B. die Festsetzungsfrist (BFH v. 25.2.2010 – IX B 156/09, BFH/NV 2012, 176).
§ 110 Abs. 1 S. 1 AO fordert, dass jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Der Steuerpflichtige muss also darlegen, dass er durch sein Verhalten die Frist versäumt hat und dieses Verhalten entschuldbar ist. Dabei ist die Sorgfalt maßgebend, die dem Steuerpflichtigen unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des einzelnen Falls und seiner persönlichen Verhältnisse zugemutet werden kann. Schuldhaft handelt, wer die gebotene und ihm mögliche Sorgfalt bei der Fristwahrung außer Acht lässt und dadurch die Frist versäumt, vorausgesetzt, dass er die Versäumung voraussehen konnte und ihm ein anderes Verhalten zuzumuten war. Eine Fristversäumnis ist nur dann als entschuldigt anzusehen, wenn sie durch die äußerste, den Umständen des Falls angemessene und vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhindert werden konnte.
Vertreter: § 110 Abs. 1 S. 1 AO bestimmt, dass der Steuerpflichtige sich das Verschulden seines Vertreters zuzurechnen hat. Vertreter können sowohl gesetzliche Vertreter (Eltern für ihre minderjährigen Kinder, Geschäftsführer) als auch gewillkürte Vertreter (Steuerberater, Rechtsanwälte o.Ä.) sein.
Erfüllungsgehilfe: Hiervon zu unterscheiden ist der Erfüllungsgehilfe, der als Hilfsperson (z.B. bei der Abgabe der Erklärung oder der Übermittlung des Einspruchs) mitwirkt. Trifft diesen ein Verschulden an der Versäumung der Frist, kommt eine Wiedereinsetzung nur dann nicht in Betracht, wenn auch den Steuerpflichtigen selbst ein Verschulden trifft, z.B. indem er eine als unzuverlässig bekannte Person bittet, seinen Einspruch beim FA in den Hausbriefkasten zu werfen.
Steuerlicher Berater: Wird der Steuerpflichtige durch einen Bevollmächtigten vertreten, handelt dieser schuldhaft, wenn sich die Fristversäumnis bei ordnungsgemäßer Büroorganisation hätte vermeiden lassen. Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, Rechtsanwälte o.Ä. müssen ihren Bürobetrieb daher so einrichten, dass im Regelfall eine Fristversäumnis ausgeschlossen ist. Konkret bedeutet dies, dass sie für die Fehler ihrer Angestellten einstehen müssen und dieses Verschulden wiederum dem Mandanten zugerechnet wird. Allerdings können sie die Berechnung einfacher Fristen und die Fristüberwachung zuverlässigen Angestellten überlassen. Eine dennoch eintretende Fristversäumnis führt nur dann zu einem Verschul...