Leitsatz
Hat ein Steuerpflichtiger die Frist für den Antrag auf Veranlagung gem. § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG ohne Verschulden nicht gekannt, kann ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sein.
Normenkette
§ 110 AO, § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG
Sachverhalt
Der Kläger ist ein auf dem Gebiet des gewerblichen Rechtsschutzes tätiger, angestellter Rechtsanwalt. In den VZ 1994 bis 1996 hatte das FA erklärungsgemäß neben den Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit auch negative Einkünfte aus Kapitalvermögen und Verluste aus selbstständiger Arbeit berücksichtigt. Für das Streitjahr 1997 und 1998 erklärte der Kläger gegenüber dem FA, er habe keine Einkünfte aus selbstständiger Arbeit mehr bezogen. Nachdem ein Zwangsgeld angedroht worden war, weil der Kläger der Aufforderung, für das Streitjahr eine Steuererklärung abzugeben, nicht nachgekommen war, gab er diese im März 2000 ab.
Das FA lehnte eine Veranlagung ab, da die Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG nicht gewahrt worden sei. In dem mit dem Einspruch verbundenen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand trug der Kläger vor, er habe die Antragsfrist nicht gekannt und aufgrund des vorausgegangenen Verhaltens des FA auch keinen Anlass gehabt, sich über den Lauf irgendwelcher vom FA nicht erwähnter Fristen zu informieren. Das FG gab der Klage statt.
Entscheidung
Der BFH wies die Revision des FA zurück. Die Würdigung des FG, den Kläger treffe hinsichtlich des Irrtums über die Antragsfrist kein Verschulden, sei möglich. Sie verstoße weder gegen Denkgesetze noch Erfahrungssätze; deshalb sei der BFH mangels zulässiger und begründeter Revisionsrügen hieran gem. § 118 Abs. 2 FGO gebunden. Das FG habe darauf abgestellt, dass der Kläger aufgrund der Androhung des Zwangsgelds angenommen habe, er sei zur Abgabe einer ESt-Erklärung verpflichtet. Ein Verschulden sei auszuschließen, weil das FA in der Androhung des Zwangsgelds nur auf die Schätzung der Besteuerungsgrundlagen hingewiesen habe, nicht aber darauf, dass eine Antragsveranlagung vorliegen könnte.
Hinweis
1. Mit der vorliegenden Entscheidung bestätigte der BFH zunächst seine bisherige Rechtsprechung, wonach weder die Übersendung von Erklärungsvordrucken noch die Aufforderung zur Abgabe von Steuererklärungen oder die Festsetzung eines Zwangsgelds zur Erzwingung der ESt-Erklärung zu einer Verlängerung der Ausschlussfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG führen.
2. Zugleich bestätigte der BFH die schon bisher bestehende Rechtsprechung zur Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO zu gewähren ist.
Danach ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. "Ohne Verschulden" verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ist jemand dann, wenn er die für einen gewissenhaft und sachgemäß handelnden Verfahrensbeteiligten gebotene und ihm nach den Umständen zumutbare Sorgfalt beachtet hat.
Wegen unverschuldeten Rechtsirrtums kann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, wenn sich der Irrtum auf die Frist selbst oder die Form der Fristwahrung bezieht.
Demgegenüber begründen Irrtümer über das Wesen einer Ausschlussfrist oder über materielles Recht eine Wiedereinsetzung grundsätzlich nicht; denn in diesen Fällen kann dem Steuerpflichtigen oder seinem Berater zugemutet werden, von den Rechten in der gebotenen Weise Gebrauch zu machen bzw. sich hierüber zu informieren.
Der BFH betont ferner, dass zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG die Anforderungen an die Voraussetzungen für die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach den hierfür maßgeblichen Vorschriften nicht überspannt werden dürfen. Im Zweifel verdient diejenige Interpretation eines Gesetzes den Vorzug, die eine Entscheidung über die materielle Rechtslage ermöglicht und nicht erschwert.
3. Der BFH betont ferner ausdrücklich, dass die Frage, ob ein Steuerpflichtiger unter den gegebenen Umständen ohne Verschulden gehandelt hat, im Wesentlichen eine Frage der Tatsachen darstellt, die das FG zu beantworten hat.
Auch hier ist deutlich zwischen rechtlichen Maßstäben einerseits sowie Tatsachenfeststellung (und Beweiswürdigung) andererseits zu unterscheiden. Die Würdigung des Sachverhalts durch das FG ist, wenn sie möglich ist, für den BFH bindend (§ 118 Abs. 2 FGO). Er ist daran nur dann nicht gebunden, wenn dem FG ein Verfahrensfehler unterlaufen ist, wenn seine Tatsachenwürdigung unvollständig (lückenhaft) oder in sich widersprüchlich (mit logischen Fehlern behaftet) ist oder wenn sie gegen Erfahrungsgrundsätze verstößt.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 22.5.2006, VI R 51/04