OFD Karlsruhe, Verfügung vom 18.3.2022, S 0262 (§ 110 Karte 1)
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Entscheidungen zum Strafbefehls- und Bußgeldverfahren wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand einer Bürgerin / einem Bürger nicht lediglich deshalb versagt werden dürfe, weil er bei vorübergehender Abwesenheit von seiner ständigen Wohnung keine besonderen Vorkehrungen (z.B. in Form eines Nachsendeauftrags oder Bestellung eines Empfangsbevollmächtigten) wegen der möglichen Zustellung eines Bescheids getroffen hat. Als „vorübergehend” bezeichnet das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 11.2.1976 (2 BvR 849/75, BVerfGE 41, 332-341) auszugsweise wiedergegeben in HFR 1976, 331, eine Frist von längstens etwa 6 Wochen. Nach den Beschlussgründen können strengere Anforderungen an die Vorkehrungspflicht dann in Betracht kommen, wenn der Bürger nach Lage der Dinge mit der Zustellung von Terminsachen während seiner Abwesenheit konkret rechnen musste.
Die für das Strafbefehls- und Bußgeldverfahren entwickelten Grundsätze sind auch im Besteuerungsverfahren anwendbar (vgl. BFH-Urteil vom 8.10.1981, IV R 108/81, BStBl 1982 II S. 165). Einer Steuerbürgerin / einem Steuerbürger ist daher bei Abwesenheit von höchstens etwa 6 Wochen regelmäßig Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn der Verwaltungsakt während ihrer / seiner Abwesenheit ergangen ist und die Rechtsbehelfsfrist bei ihrer / seiner Rückkehr bereits abgelaufen war. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist dagegen nicht zu gewähren, wenn der Verwaltungsakt zwar während einer vorübergehenden Abwesenheit der Steuerbürgerin / des Steuerbürgers von ihrer / seiner Wohnung ergangen ist, die Rechtsbehelfsfrist bei Rückkehr der Steuerbürgerin / des Steuerbürgers jedoch noch nicht abgelaufen war. In diesen Fällen kommt Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur dann in Betracht, wenn der / dem Steuerpflichtigen nach Rückkehr in seine Wohnung nicht mehr genügend Zeit für die fristgerechte Einlegung des Rechtsbehelfs verblieben ist (vgl. BFH-Urteile vom 11.12.1986, IV R 184/84, BStBl 1987 II S. 303, und vom 5.11.1987, IV R 354/84, BFH/NV 1988 S. 614).
Die vorstehenden Grundsätze gelten in der Regel auch für ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die jährlich einen längeren Urlaub im Heimatland verbringen. In diesen Fällen wird eine Abwesenheit von etwa 8 Wochen noch als vorübergehend angesehen werden können.
Für die Frage der Wiedereinsetzung ist es unbeachtlich, ob die Abwesenheit durch Urlaub oder Geschäftsreise bedingt ist. Personen, die sich oft länger auf Geschäfts- oder Dienstreise befinden, ist es indessen zuzumuten, sich vor der Reise darauf einzustellen, dass sie von fristauslösenden Postzustellungen während ihrer Abwesenheit von der Wohnung Kenntnis erhalten und das zur Fristwahrung Erforderliche veranlassen (BFH-Beschluss vom 14.11.1989, VII B 82/89, BFH/NV 1990 S. 584).
Der Grundsatz, dass derjenige, der eine ständige Wohnung innehat und diese nur vorübergehend nicht benutzt, für die Zeit seiner urlaubsbedingten Abwesenheit keine besonderen Vorkehrungen hinsichtlich möglicher Postzustellungen zu treffen hat, gilt – zumindest, wenn weiteres Personal zur Verfügung steht – nicht für eine juristische Person, deren Geschäftsführer wegen Urlaubs abwesend ist (BFH-Urteil vom 13.3.1991, I R 39/90, BFH/NV 1992 S. 146).
Bevollmächtigte, die geschäftsmäßig Hilfe in Steuersachen leisten, müssen grundsätzlich dafür sorgen, dass in ihrer Abwesenheit gesetzliche Fristen nicht versäumt werden (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 31.7.2007, IX R 47/06, BFH/NV 2007 S. 2136-2137).
Normenkette
AO 1977 § 110