Sachverhalt
Bei dem Vorabentscheidungsersuchen ging es um die Frage, wie Artikel 4 Absatz 4 Unterabsatz 2 der 6. EG-Richtlinie (ab 1. Januar 2007: Artikel 11 Absatz 1 MwStSystRL) auszulegen ist. Nach dieser Vorschrift kann jeder Mitgliedstaat nach Konsultation des Mehrwertsteuerausschusses in seinem Gebiet ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen behandeln (sog. Organschaftsregelung).
Die Klägerinnen sind Gesellschaften eines italienischen Konzerns. Die Klägerin Ampliscientifica Srl (A) wurde im Februar 1989 gegründet. Die Klägerin Amplifin SpA (B), eine Dachgesellschaft, hielt 99 % der Anteile an einer Gesellschaft C. C wiederum hielt die Mehrheit der Anteile an A. Für das Jahr 1990 beantragte B, die Ausgangsumsätze von A bzw. die Umsatzsteuerschuld daraus in ihre Jahreserklärung zu übernehmen. A übertrug dementsprechend ihre Steuerschuld auf B. Für die Jahreserklärung 1991 beantragte B zusätzlich, die Eingangsumsätze bzw. die daraus resultierenden Vorsteueransprüche einer weiteren Gesellschaft des Konzerns (der im November 1990 gegründeten Gesellschaft D) übernehmen zu wollen. Die italienische Finanzbehörde lehnte diese Anträge (auf Anwendung der Organschaftsregelung) jeweils mit der Begründung ab, B halte die Mehrheit der Anteile an den Gesellschaften A und D noch nicht seit Beginn des dem jeweiligen Jahr der Steuererklärung vorangehenden Kalenderjahres (in Bezug auf die im Februar 1989 gegründete A hätte die Organschaftsregelung also frühestens für 1991 und in Bezug auf die in 1990 gegründete D frühestens 1992 geltend gemacht werden können).
Die Klägerinnen hielten diese Bedingung eines Mindestzeitraums der anteilsmäßigen Beherrschung einer Gesellschaft für nicht gemeinschaftskonform. Auch wenn die Regelung der Verhinderung von Steuermissbräuchen diene, müsse sie es zulassen, dass die betroffenen Unternehmer nachweisen könnten, dass eine Umgehungsabsicht in keiner Weise erkennbar sei. Außerdem hätten die Finanzbehörden in ähnlichen Fällen bereits Organschaftsverhältnisse anerkannt. Nach der Rechtsprechung des EuGH dürften solche nationalen Maßnahmen auch nicht über das zur Erreichung des Ziels erforderliche Maß hinausgehen.
Das Vorlagegericht bezweifelte ebenfalls die EG-rechtliche Zulässigkeit der in Rede stehenden Bedingung. Es fragte den EuGH, ob Artikel 4 Abs. 4 Unterabsatz 2 der 6. EG-Richtlinie unbedingt und hinreichend klar gefasst sei oder ob die Mitgliedstaaten ungeachtet dessen, dass die Vorschrift den Mitgliedstaaten nicht ausdrücklich Förmlichkeiten oder Maßnahmen einräume, um eine missbräuchliche Anwendung der Bestimmung zu verhindern, größere Spielräume bei der Anerkennung von Organschaften hätten. Weiter fragte das Vorlagegericht, ob die italienische Regelung nicht etwa dadurch den gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt, dass sie eine unwiderlegbare Vermutung enthält, dass, solange der Mindestzeitraum der finanziellen Verbindung nicht abgelaufen ist, von missbräuchlichen Gestaltungen auszugehen ist und die Betroffenen nicht den Nachweis führen können, dass die Verbindung auf vernünftigen wirtschaftlichen Gründen beruht und sie nicht der Steuergestaltung dient.
Entscheidung
Der EuGH hat es bei seiner Antwort zur ersten Frage (Auslegung von Artikel 4 Abs. 4 der 6. EG-Richtlinie) offen gelassen, ob die italienische Regelung überhaupt eine Maßnahme zur Umsetzung von Artikel 4 Abs. 4 der 6. EG-Richtlinie war. Dies muss das Vorlagegericht entscheiden. Gleichwohl macht der EuGH Ausführungen zu der Vorschrift, nicht jedoch zu ihrem materiell-rechtlichen Verständnis. Er führt nämlich aus (und dies überrascht), dass aufgrund der (zwingenden) Wirkungsweise der Vorschrift, dass verbundene Gesellschaften zu einem einzigen Steuerpflichtigen verschmolzen werden, dem jeweiligen Konzern bei Anwendung der Organschaftsregelung nur eine einzige "Mehrwertsteuernummer" zugeteilt werden kann. Dieser Grundsatz bestehe auch vor dem Hintergrund, dass seit Errichtung des Binnenmarkts den Steuerpflichtigen "persönliche Umsatzsteuer-Identifikationsnummern" zugeteilt würden. Der EuGH ist also ganz offensichtlich der Auffassung, dass einem Organkreis nur eine einzige USt-IdNr. zugeteilt werden kann. Er unterscheidet nämlich zwischen der Organschaft im Sinne von Artikel 4 Abs. 4 der 6. EG-Richtlinie und einem System vereinfachter Erklärungen und Zahlungen der Mehrwertsteuer, bei dem Konzerngesellschaften jeweils ihre eigene Unternehmereigenschaft behalten und nur die Mehrwertsteuer in den Konten der Muttergesellschaft zusammengeführt wird.
Dieser Standpunkt des EuGH überrascht in dreierlei Hinsicht. Erstens war die Frage der Vergabe von Steuernummern vom Vorlagegericht nicht angesprochen worden. Zweitens regelt Artikel 4 Abs. 4 der 6. EG-Richtlinie nicht die Vergabe von Steuernummern oder USt-Id-Nummern. Drittens enthält die 6. EG-Richtl...