Dr. Hubertus Gschwendtner
Leitsatz
Bei der Prüfung, ob ein volljähriges Kind wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, ist auf den Kalendermonat abzustellen.
Normenkette
§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG , § 62 Abs. 1 EStG , § 63 Abs. 1 EStG
Sachverhalt
Die Klägerin bezog Kindergeld für ihre dauerhaft zu 60 % behinderte Tochter M. M war in einer Behindertenwerkstätte beschäftigt und bezog aus dieser Tätigkeit ein Bruttoentgelt von monatlich 351 DM. Außerdem erhielt sie eine Waisenrente von monatlich 716 DM. Im Mai 2001 erhielt sie eine Rentennachzahlung von 44.200 DM.
Der Beklagte setzte daraufhin das Kindergeld ab 1.1.2001 auf 0 DM fest und forderte das ab Januar gezahlte Kindergeld zurück. Er begründet dies damit, dass das Einkommen der M mit der Rentennachzahlung den kindergeldschädlichen Jahresgrenzbetrag überschritten habe.
Das FG gab der Klage statt (EFG 2002, 1311).
Entscheidung
Der BFH gab der Revision des Beklagten teilweise statt. Der notwendige Lebensbedarf sei nach dem Monatsprinzip zu berechnen. Das bedeute im Streitfall, dass M bis zum Zeitpunkt der Rentennachzahlung außerstande gewesen sei, sich selbst zu unterhalten. Das sei ab diesem Zeitpunkt anders gewesen, weil M nunmehr über ausreichende Mittel zur Deckung ihres existenziellen Lebensbedarfs verfügt habe. Der Beklagte habe deshalb die Kindergeldfestsetzung ab Juni 2001 zu Recht aufgehoben.
Hinweis
Nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG ist ein über 18 Jahre altes Kind beim Familienleistungsausgleich zu berücksichtigen, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung "außerstande ist, sich selbst zu unterhalten". Sich selbst unterhalten kann das Kind dann nicht, wenn seine finanziellen Mittel nicht ausreichen, um seinen allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und seinen behinderungsbedingten Mehrbedarf zu decken.
Das ist inzwischen sowohl für den Kinderfreibetrag als auch für das Kindergeld gesicherte Rechtsprechung (vgl. u.a. BFH, Urteil vom 15.10.1999, VIII R 183/97, BStBI II 2000, 72). Gesichert ist auch, dass die Leistungsfähigkeit des Kindes nach dem einkommensteuerrechtlichen Zuflussprinzip zu bestimmen ist (vgl. u.a. BFH, Urteil vom 16.4.2002, VIII R 76/01, BFH-PR 2002, 299). Offen war aber bisher, ob die in diesem Zusammenhang anzustellenden Berechnungen nach dem Jahresprinzip oder dem Monatsprinzip vorzunehmen sind.
Diese Frage ist mit dem vorliegenden Urteil entschieden; es ist auf das Monatsprinzip abzustellen. Dieses Prinzip ergibt sich für das Kindergeld aus § 66 Abs. 1, Abs. 2 und § 71 EStG und der auch für den Kinderfreibetrag geltenden Regelung des § 32 Abs. 3 EStG und wird von der Rechtsprechung als der das Kindergeldrecht maßgeblich bestimmende Grundsatz immer mehr in den Vordergrund gerückt (vgl. auch die Praxis-Hinweise zum BFH, Urteil vom 14.10. 2003, VIII R 111/01). Das für die Einkommensteuer grundsätzlich maßgebliche Jahressteuerprinzip gilt nur dort, wo der Gesetzgeber es ausdrücklich für anwendbar erklärt hat; das ist zwar z.B. für Kinder in Ausbildung (vgl. die Verweisung in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG), nicht aber für behinderte Kinder der Fall (die in die Verweisung nicht einbezogen sind).
Zu beachten ist aber, dass es trotzdem einen Systemzusammenhang zwischen der in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG und der in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG getroffenen Bedarfsregelung gibt. Der gemeinsame Bezugspunkt ist die Höhe des für alle Kinder im jeweiligen Kalenderjahr anzusetzenden Grundbedarfs. Das bedeutet z.B., dass die Kinder für die Befriedigung dieses Bedarfs kein eigenes Vermögen einsetzen müssen (BFH, Urteil vom 19.8.2002, VIII R 17/02, BFH-PR 2003, 55) und dass der dort festgesetzte Jahresgrenzbetrag jeweils mit einem Zwölftel den monatlichen Grundbedarf bestimmt.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 04.11.2003, VIII R 43/02