Prof. Dr. Joachim S. Tanski
Rz. 115
Der Fair Value ist der wohl am meisten diskutierte Begriff bzw. Wertansatz in der angloamerikanisch geprägten Rechnungslegung. Während für die Befürworter mit diesem Wert für den Bilanzleser ein großer Sprung zu einer besseren, informationshaltigeren Berichterstattung der Unternehmen erfolgt, sehen die Kritiker in diesem Wert eine Minderung der Aussagefähigkeit von Jahresabschlüssen und vor allem eine Abnahme der gebotenen Verlässlichkeit. Tatsächlich gibt es bis heute keinen wissenschaftlich fundierten Beweis für eine hohe oder niedrige Aussagekraft des Fair Value. Bisherige Studien sind häufig zwiespältig oder verneinen den erwarteten höheren Nutzen, während nur wenige Studien für den Fair Value sprechen. Befürworter und Kritiker des Fair Value stehen sich teilweise feindlich wie in einem "Religionskrieg" gegenüber. Tatsache ist aber, dass die Fair-Value-Bewertung im Jahresabschluss zu einer sehr hohen Volatilität der Erfolgsdarstellung führen kann, welche bei Finanzdienstleistern dramatisch höher als in Industrieunternehmen ist; dies ist insbesondere bei Bilanzanalysen zu berücksichtigen und entspricht somit der wirtschaftlich teilweise sehr volatilen Entwicklung und Veränderung von Erwartungen der Marktteilnehmer.
Rz. 116
Da der Fair Value (in der deutschen Übersetzung: beizulegender Zeitwert) ist in IFRS 13.9 wie folgt definiert: "In diesem IFRS wird der beizulegende Zeitwert als der Preis definiert, der in einem geordneten Geschäftsvorfall zwischen Marktteilnehmern am Bemessungsstichtag für den Verkauf eines Vermögenswerts eingenommen bzw. für die Übertragung einer Schuld gezahlt würde." Die Ermittlung eines Fair Values besteht also in der Schätzung des Preises, zu dem unter aktuellen Marktbedingungen am Bemessungsstichtag ein geordneter Geschäftsvorfall zwischen Marktteilnehmern stattfinden würde, im Zuge dessen der Vermögenswert verkauft oder die Schuld übertragen würde. Dass es sich bei diesem Wert häufig nur um eine Schätzung handeln kann, ergibt sich aus der Tatsache, dass der zu bewertende Vermögensgegenstand eben nicht an einem Markt verkauft werden soll.
Mit dieser neuen Definition hat sich das IASB in die simple Definition eines Marktwertes geflüchtet, nachdem die alte Definition als offensichtlich realitätsfern erkannt wurde. Es wäre äußerst sinnvoll gewesen, mit Einführung der neuen Definition den nun (noch mehr) irreführenden Begriff "Fair Value" zu streichen.
Rz. 117
Nach der alten (aber letztlich weiterhin auch noch gültigen) Definition ist der Fair Value der Betrag, zu dem ein Vermögenswert zwischen
- sachverständigen,
- vertragswilligen und
- voneinander unabhängigen Geschäftspartnern
- getauscht werden könnte.
Sachverständig: Die Geschäftspartner haben dann diese Eigenschaft, wenn sie über alle für eine Transaktion benötigten Informationen verfügen. Dazu gehören u. a. Kenntnisse über alle Merkmale des Transaktionsgegenstands (z. B. Leistungsdaten, Einsatzfähigkeit, Mängel) und alles Wissen über den Markt (z. B. Vergleichspreise für vergleichbare Güter, Konditionen).
Vertragswillig: Vertragswilligkeit liegt vor, wenn Geschäftspartner weder zu einer Transaktion getrieben oder gedrängt (z. B. bei Notverkäufen zur Liquiditätsbeschaffung) noch hinsichtlich der Transaktion gehemmt sind (z. B. weil ein besseres Angebot erwartet wird oder weil man als Verkäufer den Preis hochtreiben will).
Unabhängig: Diese Voraussetzung entspricht der Dealing-at-arm’s-length-Regel bzw. dem Fremdvergleich und ist in dieser Definition vergleichsweise unproblematisch.
Könnte: Der Konjunktiv zeigt, dass es sich um einen fiktiven Wert handelt. Der Fair Value entsteht also nicht durch eine reale Transaktion, sondern wird gedanklich unter Annahme der genannten Voraussetzungen gebildet.
Die in dieser Fair-Value-Definition genannten Voraussetzungen ähneln sehr stark den Definitionsvoraussetzungen des Vollkommenen Marktes in der Volkswirtschaftlehre. Beim Vollkommenen Markt handelt es sich um ein Gedankengebilde, welches der Erklärung gesamtwirtschaftlicher Phänomene dient, aber in der Realität nicht zu beobachten ist. Das legt die Annahme nahe, dass auch ein Fair Value nicht in der Realität feststellbar und damit rein fiktiver Natur ist. Vergleichbares gilt auch für den steuerlichen Teilwert, der auf einer sog. Fiktionenkette aufbaut.
Rz. 118
Ähnlich wie es für den Teilwert sog. Teilwertvermutungen gibt, um in der Praxis zu einem Wertansatz zu gelangen, hat der Standardsetter auch für die IFRS Fair-Value-Vermutungen aufgestellt. Dazu stellt der Standardsetter in allen Fair-Value-relevanten Standards (also für alle Fair-Value-bedeutsamen Bilanzposten) Überlegungen an, welchen "besten Anhaltspunkt" (best evidence) es jeweils gibt. Über das gesamte Regelwerk hinweg ergibt sich dabei die folgende IFRS-Fair-Value-Hierarchie:
- notierte Preise in einem aktiven Markt ("Level 1", mark-to-market),
- Bewertungsverfahren mittels beobachtbarer Parameter ("Level 2", mark-to-market) und
Bewertungsverfah...