Dr. Birger Brandt, Prof. Jürgen Brandt
Leitsatz
Der Lauf der Zinsen gem. § 233a AO 1977 endet mit Ablauf des dritten Tags nach Aufgabe des Steuerbescheids zur Post (Bekanntgabe des Verwaltungsakts i.S.d. § 122 Abs. 2 AO 1977), auch wenn der Steuerbescheid dem Inhaltsadressaten tatsächlich früher zugeht.
Normenkette
§ 233a Abs. 2 Satz 3, § 124 Abs. 1 Satz 1, § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977
Sachverhalt
Auf der Grundlage geänderter Einkommensteuerbescheide hatten die Kläger Anspruch auf Verzinsung nach § 233a AO. Im Hinblick auf die Absendung der Änderungsbescheide am 28.3.1995 legte das FA seiner Zinsberechnung als Beginn des Fristlaufs die Drei-Tage-Fiktion des § 122 AO zugrunde; die Kläger begehrten unter Hinweis auf die tatsächlich am 29.3.1995 erfolgte Bekanntgabe der Änderungsbescheide, Zinsen bereits für den Monat März zu berücksichtigen. Ihre Klage hatte vor dem FG Erfolg. Der BFH hob das FG-Urteil auf und wies die Klage ab.
Entscheidung
Entgegen der Ansicht des FG ist das Ende des Zinslaufs der Vollverzinsung (§ 233a AO 1977) unter Anwendung des § 122 Abs. 2 AO 1977 zu bestimmen. Auf den tatsächlich früheren Zugang der Einkommensteuerbescheide kommt es nicht an.
Die Zugangsfiktion in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 hat nicht ausschließlich verfahrensrechtliche Bedeutung. Sie ist auch zu beachten, wenn – wie hier – an den Zeitpunkt der Bekanntgabe materiell-rechtliche Folgen – wie z.B. für die Fälligkeit des Steuer- oder Erstattungsanspruchs in § 220 Abs. 2 AO 1977, § 36 Abs. 4 Sätze 1 und 2 EStG – geknüpft sind.
Angesichts der Stellung des § 122 AO 1977 im Dritten Teil des Gesetzes "Allgemeine Verfahrensvorschriften", zweiter Abschnitt "Verwaltungsakte", beansprucht die Norm allgemeine Gültigkeit. Soll bei Anwendung einer Vorschrift, welche die "Bekanntgabe" als Tatbestandsmerkmal enthält, § 122 AO 1977 nicht gelten, müssen besondere Gründe vorliegen. Hinsichtlich der Wirksamkeit von Steuerverwaltungsakten sind solche nicht ersichtlich.
Vielmehr kommt gerade hier der Regelung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 ganz erhebliche praktische Bedeutung zu, da Streitigkeiten über den genauen Zeitpunkt des Posteingangs verhindert werden. Der Vorschrift ist somit eine beachtliche Entlastungsfunktion beizumessen, die sich sowohl zugunsten als auch zuungunsten des Steuerpflichtigen auswirken kann.
Dafür, dass § 124 AO 1977 an die Bekanntgabe der Verwaltungsakte i.S.v. § 122 AO 1977 anknüpft, spricht auch die Stellung der beiden Vorschriften zueinander. Allein aus dem Wortlaut des § 124 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 ("bekannt gegeben wird" anstelle "Bekanntgabe") ist die Rechtsauffassung abzuleiten, dass Steuerbescheide bzw. Verwaltungsakte generell mit dem tatsächlichen Zugang wirksam werden und § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 nicht gelte, wird dem Vereinfachungszweck der Zugangsfiktion nicht gerecht.
Im Übrigen knüpfte die bis zum 31.12.1993 geltende Regelung des Zinslaufs an die Fälligkeit der Nachforderung bzw. Erstattung an, die von der Bekanntgabe des Steuerbescheids gem. § 122 AO 1977 abhing. Mit der Neufassung des § 233a Abs. 2 Satz 3 AO 1977 sollte sich hieran nichts ändern (vgl. Amtliche Begründung, BTDrucks. 12/5630, S. 102).
Hinweis
Obwohl nach der BFH-Entscheidung der Bescheid für den Lauf der Frist für die Vollverzinsung erst mit dem Ablauf der Drei-Tage-Frist des § 122 AO als bekannt gegeben gilt, ist er gleichwohl mit der tatsächlichen Bekanntgabe an den Empfänger wirksam (Tipke/Kruse, Rz. 8 zu § 124 AO mwN); insbesondere kann das FA den Steuerbescheid nur noch nach den §§ 164, 165, 172 ff., 367 Abs. II AO ändern, nicht aber innerhalb der Drei-Tage-Frist durch eine darüber hinausgehende Neuregelung ersetzen. Zumindest insoweit wird der Begriff der Bekanntgabe in § 124 AO nicht durch denjenigen der Bekanntgabefiktion in § 122 AO bestimmt.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 13.12.2000, X R 96/98