7.1 Bauträgerfälle: Wann wird die Verjährung gehemmt?
BFH, Urteil v. 27.7.2021, V R 3/20
Der Erstattungsanspruch i. S. d. § 37 Abs. 2 AO setzt u.a. voraus, dass eine Steuer (oder steuerliche Nebenleistung) ohne rechtlichen Grund gezahlt worden ist oder der rechtliche Grund für die Zahlung später wegfällt. Für die Frage, ob ein Rechtsgrund für eine Steuerzahlung besteht, ist § 171 Abs. 14 AO nicht im Sinne der sog. materiellen Rechtsgrundtheorie, sondern der formellen Rechtsgrundtheorie auszulegen. Maßgeblich ist demnach, dass es für die Zahlung des Steuerpflichtigen an einem formalen Rechtsgrund in Gestalt eines wirksamen Steuerbescheids fehlt (BFH v. 4.8.2020, VIII R 39/18, BFH/NV 2021 S. 49, sowie im Anschluss BFH v. 25.11.2020, II R 3/18, BFH/NV 2021 S. 820, Rz 38). Demgegenüber wandte das FA ohne Erfolg ein, der Erstattungsanspruch entstehe materiell-rechtlich bereits mit der Zahlung der Steuer durch den Leistungsempfänger (X), sodass die Festsetzungsfrist im Zeitpunkt des Antrags der Leistungsempfängerin auf Rückerstattung noch nicht abgelaufen sei.
7.2 Falsche zeitliche Zuordnung von Hinzuschätzungen: Bescheid kann geändert werden
FG Münster, Urteil v. 14.9.2021, 2 K 1155/19 G,F
§ 174 AO eröffnet die Möglichkeit, der materiellen Richtigkeit Vorrang einzuräumen und Vorteile und Nachteile auszugleichen, die sich durch Steuerfestsetzungen ergeben, die inhaltlich einander widersprechen. Denn im Steuerrecht können Fälle auftreten, bei denen aus einem Sachverhalt steuerlich unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen werden, die sich denkgesetzlich gegenseitig ausschließen.
7.3 Fehlende gesetzliche Verpflichtung zur Führung einer elektronischen Kasse im Jahr 2015?
BFH, Urteil v. 16.9.2021, IV R 34/18
Mängel im Vollzug der Steuergesetze führen allein noch nicht zur Verfassungswidrigkeit der materiellen Steuernorm. Verfassungsrechtlich verboten ist allerdings der Widerspruch zwischen dem normativen Befehl der materiell pflichtbegründenden Steuernorm und der nicht auf Durchsetzung dieses Befehls angelegten Erhebungsregel. Die empirische Ineffizienz einer Rechtsnorm führt nicht bereits zur Gleichheitswidrigkeit, sondern erst das normative Defizit des widersprüchlich auf Ineffektivität angelegten Rechts. Der Gesetzgeber ist somit verpflichtet, das Gesetz in ein normatives Umfeld einzubetten, das die tatsächliche Lastengleichheit der Steuerpflichtigen gewährleistet. Im Veranlagungsverfahren bedeutet das die Ergänzung des Deklarationsprinzips durch das Verifikationsprinzip.
Für die Prüfung, ob normative Defizite einen gleichmäßigen Belastungserfolg verhindern, ist auf den Regelfall des Besteuerungsverfahrens abzustellen. Wenn die Finanzverwaltung wegen einer bestimmten materiellen Norm generell verschärft prüfen muss, um überhaupt einen annähernd gleichmäßigen Belastungserfolg zu erreichen, kann dies Indiz für defizitäre Erhebungsstrukturen sein. Die Form der Steuererhebung und das behördliche Kontrollinstrumentarium müssen der materiellen Steuernorm so entsprechen, dass deren gleichheitsgerechter Vollzug im Massenverfahren der Veranlagung ohne unverhältnismäßige Mitwirkungsbeiträge der Steuerpflichtigen oder übermäßigen Ermittlungsaufwand der Finanzbehörden möglich ist.
7.4 Umsatzsteuerbefreiung für Leistungen einer Hygienefachkraft
FG Münster, Urteil v. 1.6.2021, 15 K 2712/17 U
Seit dem Urteil, EuGH, Urteil v. 8.10.2020, C-657/19 (zu Pflegebedürftigkeitsgutachten im Auftrag des MDK; nachfolgend BFH, Urteil v. 24.2.2021, XI R 30/20 (XI R 11/17)) ist abstrakt geklärt, dass die Leistungen dann eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbunden sind, wenn die fraglichen Dienstleistungen für die Durchführung der Maßnahmen der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit als solche unerlässlich sind. Die Steuerbefreiung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL bezweckt die Kostensenkung für im sozialen Sektor erbrachten, dem Gemeinwohl dienenden Leistungen. Auch ist die Tätigkeit des Klägers von überragendem Gemeinwohlinteresse an der Einhaltung höchster hygienischer Standards in den Alten- und Pflegeheimen.
Dass die Einhaltung hygienischer Anforderungen gerade in Alten-/Pflegeheimen unerlässlich ist, ist nach Auffassung des FG Münster gerade während der noch andauernden Corona-Pandemie mehr als deutlich geworden. Das FG hat die Revision beim BFH wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.