7.1 Ersatzzustellung setzt Übergabeversuch voraus – auch bei einer Pandemie
BFH, Urteil v. 19.10.2022, X R 14/21
Nach § 97 FGO kann über die Zulässigkeit der Klage durch Zwischenurteil vorab entschieden werden. Nach § 121 Satz 1 FGO gilt dies auch für die Zulässigkeit der Revision. Der Erlass eines Zwischenurteils steht im Ermessen des Gerichts. Es kann stattdessen auch das Verfahren fortführen und über die Zulässigkeit erst später in einem Endurteil entscheiden. Der Erlass eines Zwischenurteils ist im Streitfall sachgerecht. Dadurch wird die unter den Beteiligten bestehende Ungewissheit über die Zulässigkeit der Revision beseitigt. Der Rechtsstreit kann sich damit im weiteren Verlauf auf die materiell-rechtlichen Fragen (Auflösung einer § 6b-Rücklage) konzentrieren.
Geht es um die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Revision (§ 124 FGO), kann auch das Revisionsgericht eigene Tatsachenfeststellungen treffen. In diesen Fällen kann es ausnahmsweise auch zu einer Beweisaufnahme (auch Zeugeneinvernahme) durch den BFH kommen, wobei das Freibeweisverfahren ausreichend sein kann (BFH, Urteil v. 22.7.2002, V R 55/00, BFH/NV 2002 S. 1601).
Das FA hatte sich ergänzend darauf berufen, dass die Sendung bereits mit dem Einlegen in den Briefkasten in den Machtbereich der Prozessbevollmächtigten gelangt sei. Diese allgemeine Regel über den Zugang von Erklärungen (§ 130 BGB), wird jedoch für Fälle der förmlichen Zustellung durch die hierfür geltenden differenzierten Vorschriften (§§ 166 ff. ZPO) verdrängt.
7.2 Gelegentlicher Erwerb von Pkw: Ist ein Vorsteuerabzug möglich?
BFH, Urteil v. 8.9.2022, V R 26/21
Der A GmbH stand auch kein Zuordnungswahlrecht zu. Dieses bezieht sich auf den Erwerb eines gemischt (für unternehmerische und private Zwecke) genutzten Gegenstands (BFH, Urteil v. 4.5.2022, XI R 29/21 (XI R 7/19), BFH/NV 2022 S. 881, Rz. S. 30). Im Streitfall, in dem zu entscheiden ist, ob ein Gegenstand überhaupt für eine wirtschaftliche Tätigkeit erworben wurde, kommt es darauf nicht an.
Vor der Ausgliederung auf die A GmbH & Co. KG hatte der Unternehmer (GF) unter seiner einzelkaufmännischen Firma (Handel mit Metallschrott) branchenfremd ein vergleichbares Fahrzeug erworben. Auch in diesem Fall hat der BFH mit nahezu gleichlautender Begründung den Vorsteuerabzug (entgegen dem FG-Urteil) versagt (BFH, Urteil v. 8.9.2022, V R 27/21).
7.3 Nachzahlungszinsen: Corona-Maßnahmen können Erlass begründen
FG Münster, Urteil v. 26.10.2022, 13 K 1920/21
Die Revision ist beim BFH unter dem Aktenzeichen XI R 28/22 anhängig.
7.4 Zur Erweiterung einer ersten Anschlussprüfung von 1 auf 3 Jahre
BFH, Beschluss v. 3.8.2022, XI R 32/10
Der Anordnung der Erweiterung des Prüfungszeitraums vom 4.12.2017 (PA III) in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 12.3.2019 steht die Rechtskraft des FG-Urteils vom 21.2.2017 nicht entgegen. Das FG hat damit zwar die vorausgegangene PA II hinsichtlich 2011/2012 aufgehoben. Dies ist jedoch allein deswegen geschehen, weil Gründe für die Erweiterung des Prüfungszeitraums nicht vorgebracht worden waren. Nur auf diese Begründung erstreckt sich die Rechtskraft dieses Urteils. Ebenso wie die Aufhebung eines Verwaltungsakts wegen eines Verfahrensmangels nicht den Erlass eines neuen (ggf. inhaltsgleichen) Verwaltungsakts in einem fehlerfreien Verfahren hindert, so steht auch die Aufhebung der Anordnung der Erweiterung des Prüfungszeitraums durch ein rechtskräftiges Urteil des FG (Fall der "echten Kassation") dem Erlass einer neuen Prüfungsanordnung nicht im Wege (BFH, Urteil v. 20.10.1988, IV R 104/86, BStBl 1989 II S. 180).
Ist eine Prüfungsanordnung nichtig oder wird sie durch das FG aufgehoben oder als rechtswidrig festgestellt, besteht grundsätzlich ein Verwertungsverbot der Prüfungsfeststellungen für eine Korrektur der Steuerfestsetzung (AEAO Nr. 2 zu § 196 AO). Die Rechtsgültigkeit der Erweiterung einer Prüfungsanordnung hat daher in der Praxis große Bedeutung.
7.5 Zur Verwendung eines Pkw im Rahmen eines Ehegatten-Vorschaltmodells
Der BFH hebt besonders hervor, dass die Privatnutzung der A nicht zu sog. gemischten Aufwendungen für die Lebensführung i. S. d. § 12 Nr. 1 Satz 2 EStG führt. Im Unterschied zum Einkommensteuerrecht sieht das Umsatzsteuerrecht bei gemischter Verwendung von Investitionsgütern (außerhalb der Regelung für Grundstücke nach Art. 168a MwStSystRL, § 15 Abs. 1b UStG) kein Abzugsverbot vor, sondern ermöglicht selbst bei nur geringer unternehmerischer Verwendung (sog. gemischte Verwendung) die vollständige Zuordnung zum Unternehmen mit der Folge des vollständigen und sofortigen Vorsteuerabzugs und besteuert im Gegenzug die private Verwendung als unentgeltliche Wertabgabe (BFH, Urteil v. 4.5.2022, XI R 28/21 (XI R 3/19), BFH/NV 2022 S. 878).