9.1 Anwalt ohne Befugnis zur Hilfeleistung in Steuersachen: Ist der Steuerbescheid ungültig?
FG Hamburg, Urteil v. 30.07.2020, 2 K 12/19
Das Gericht zeigte dem Steuerpflichtigen aber einen anderen Weg auf: Da der Steuerbescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung steht, kann er eine neue Steuererklärung abgeben. Solange noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten ist, die im vorliegenden Fall erst nach Ablauf von 4 Jahren eintritt, kann die Steuerveranlagung dann auf Basis der neu übermittelten Zahlen abgeändert werden.
9.2 Bei ordnungsgemäßer Buchführung: Finanzamt muss Schätzung gut begründen
Sächsisches FG, Urteil v. 28.5.2020, 6 K 566/18
Der Entscheidung des Sächsischen Finanzgerichts kann nur zugestimmt werden. Die Finanzverwaltung droht teilweise im Rahmen einer steuerlichen Außenprüfung sehr schnell mit einer Schätzung. Dabei gibt es in der AO recht klare Vorgaben, wann tatsächlich eine Schätzung erfolgen darf. § 162 Abs. 2 Satz 2 AO normiert ausdrücklich, dass eine Schätzung möglich ist, wenn Bücher und Aufzeichnungen nicht vorgelegt werden können oder die Buchführung keine Beweiskraft nach § 158 AO entfaltet. Die Gründe dafür, warum die Buchführung indes formell nicht ordnungsgemäß ist oder die formell ordnungsgemäße Buchführung im Einzelfall nicht verwendet werden kann, muss die Finanzverwaltung darlegen. Die Buchführung war hier formell ordnungsgemäß, somit kam der zweite Fall zur Anwendung. An die Entkräftung der Richtigkeitsvermutung einer ordnungsgemäßen Buchführung ist aber nach der Rechtsprechung des BFH eine besondere Anforderung zu stellen. Die Finanzverwaltung muss nämlich nachweisen, dass die Buchführung nicht richtig ist. Und eine einfache Nachkalkulation reicht nicht aus, um diesen Nachweis zu führen. Bei einer formell ordnungsgemäßen Buchführung ist es somit durchaus nicht ganz einfach für die Finanzverwaltung, Schätzungen vorzunehmen.
9.3 Betriebsaufspaltung: Erbengemeinschaft als Anteilseignerin der Betriebsgesellschaft
FG Baden-Württemberg, Urteil v. 29.1.2019, 11 K 1398/16
Das Urteil ist zu begrüßen, da es einer Ausuferung der Betriebsaufspaltung entgegensteht, indem es der Vermutung, dass Eltern und ihre minderjährigen Kinder gleichgerichtete wirtschaftliche Interessen verfolgen, widerspricht. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die Revision zugelassen wurde. Das Urteil verdeutlicht, dass in der Praxis bei Betriebsaufspaltungen erhebliche Beratung notwendig ist, die sowohl die laufende Struktur als auch eventuelle Erbfälle miteinbeziehen muss.
9.4 Bewertung eines Grundstücks: Wie gelingt der Nachweis eines geringeren gemeinen Werts?
BFH, Urteil v. 16.9.2020, II R 1/18
Der BFH stellt klar, dass für die Anwendung der WertV bzw. der ImmoWertV nicht der Zeitpunkt der Gutachtenerstellung, sondern der Bewertungsstichtag entscheidend ist. Würde man auf die Erstellung des Gutachtens abstellen, könnten für Bewertungsstichtage bis 30.6.2010 entweder die WertV, solange das Gutachten bis zu diesem Datum erstellt wurde, oder alternativ die ImmoWertV, falls das Gutachten ab dem 1.7.2010 erstellt wurde, anwendbar sein. Somit wären je nach dem Zeitpunkt der Begutachtung unterschiedliche Regelungen zu berücksichtigen. Das würde einer rechtssicheren Wertermittlung widersprechen.
9.5 Irrtum bezüglich Reverse-Charge-Verfahren: Führt rückwirkende Rechnungsberichtigung zum rückwirkenden Vorsteuerabzug?
Niedersächsisches FG, Urteile v. 17.9.2020, 11 K 323/19 und 11 K 324/19
Das Urteil ist für die Praxis wichtig, vor allem auch, da es der Verwaltungsauffassung (BMF, Schreiben v. 18.9.2020, II C 2 - S 7286-a/19/10001 :001, Rz. 23) widerspricht. Gegen das Urteil 11 K 324/19 wurde Revision beim BFH eingelegt, Az beim BFH V R 33/20. Das Urteil 11 K 323/19 ist rechtskräftig.
Setzt sich die Auffassung des FG durch, erfolgt bei irriger Annahme der Steuerschuld des Leistungsempfängers die Korrektur künftig für alle Beteiligten mit Rückwirkung. Die hierfür erforderliche ergänzungsfähige Erstrechnung erfordert anstatt des Steuerausweises einen Hinweis auf die (vermeintliche) Steuerschuld des Leistungsempfängers nach § 13b UStG. Dies hat den für die Praxis wichtigen Vorteil, dass den Nachzahlungszinsen beim Leistenden künftig Erstattungszinsen beim Leistungsempfänger gegenüberstehen.
Offen bleibt, ob die durch das FG zugelassene Rückwirkung des Vorsteuerabzugs auch übertragbar ist auf Fälle, in denen
- der maßgebliche Besteuerungszeitraum beim Leistungsempfänger bestandskräftig festgesetzt oder festsetzungsverjährt ist bzw. wenn bei einem Vorsteuer-Vergütungsantrag die Abgabefrist verstrichen ist,
- steuerpflichtige Leistungen zuerst irrig nicht steuerbar oder steuerfrei behandelt wurden; auch hier durfte der Rechnungsteller zuerst keine Umsatzsteuer ausweisen.
9.6 Umsatzsteuer: Verzicht auf das Recht zur Privatliquidation
Schleswig-Holsteinisches FG, Urteil v. 30.9.2020, 4 K 67/18
Selbst bei einer unterstellten Zuordnung des Verzichts auf das Privatliquidationsrecht zur unternehmerischen Sphäre des Klägers greift die Steuerbefreiung des § 4 Nr. 14 UStG. Zwar ist der Verzicht eines Professors der Medizin auf das ihm eingeräumte Liquidationsrecht im steuerfreien Katalog des § 4 UStG nicht ausdrücklich angeführt. Auch handelt es sich bei dem entgeltlichen Verzicht weder um eine Heilbehandlung noch um einen sonstigen Leistungsaustausch zwischen Patienten und Arzt. Jedoch greift hier der Rechtsgedanke des EuGH, Urteil v. 15.12.1993, C-63/92. Danach ist der Verzicht auf die Rechte aus einem Vertrag steuerlich der Leistung, auf dessen Ausübung – hier nach ...