Entscheidungsstichwort (Thema)
Feststellung einer Steuerhinterziehung aufgrund von Wahrscheinlichkeitsaussagen
Leitsatz (redaktionell)
- Für die inhaltliche Bestimmtheit eines Haftungsbescheids ist nicht erforderlich, dass aus ihm der oder die Steuerschuldner hervorgehen, und dass erkennbar ist, in welcher Höhe die Steuerschuld auf den jeweiligen Steuerschuldner entfällt.
- § 70 AO kommt als Haftungsnorm auch bei der Einkommensteuer in Betracht.
- Das Vorliegen einer Steuerhinterziehung im Einzelfall lässt sich nicht mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitsaussagen begründen.
- Bei der Feststellung einer Haupttat im Rahmen der Haftung wegen strafrechtlicher Teilnahme (hier: Hinterziehung von Kapitaleinkünften durch nicht identifizierte Bankkunden bei anonymem Kapitaltransfer ins Ausland) ist daher stets ein individueller und nicht ein statistischer Maßstab anzulegen.
Normenkette
AO §§ 34-35, 70, 119 Abs. 1, § 125 Abs. 1, § 157 Abs. 1 S. 2
Gründe
Auszugsweise Wiedergabe aus den Entscheidungsgründen:
...
Die Klage ist begründet.
1. Der Klageerfolg ergibt sich jedoch nicht schon daraus, dass der angefochtene Haftungsbescheid unwirksam wäre. Der Senat vermag sich der Ansicht der Klägerin, dem Haftungsbescheid mangele es ohne Angabe der Steuerschuldner und der Höhe der einzelnen Steuerschulden an der hinreichenden Bestimmtheit, sodass ein schwerer Fehler i.S. des § 125 Abs. 1 AO vorliege, der zu Nichtigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes führe, nicht anzuschließen. Nach § 119 Abs. 1 AO muss ein Verwaltungsakt inhaltlich hinreichend bestimmt sein. Die hinreichende Bestimmung setzt die festgesetzte Steuer nach Art und Betrag und die Person des Steuerschuldners voraus (§ 157 Abs. 1 Satz 2 AO). Die Besteuerungsgrundlagen müssen hingegen, soweit sie nicht gesondert festzustellen sind, nicht im anfechtbaren Teil des Steuerbescheids angegeben werden. Übertragen auf den Haftungsbescheid bedeutet dies nach der Rechtsprechung des BFH, der sich der Senat anschließt, dass ein besonders schwerer Fehler nur dann anzunehmen ist, wenn der Haftungsbescheid nicht die ihn erlassende Behörde, den Haftungsschuldner, die Haftungsschuld und/oder die Art der Steuer angibt, für die der Haftungsschuldner haften soll (BFH-Beschluss vom 03. Dezember 1996 I B 44/96, BStBl II 1997, 306, unter I.1. der Gründe). Es ist für die inhaltliche Bestimmtheit eines Haftungsbescheids nicht erforderlich, dass aus ihm der oder die Steuerschuldner hervorgehen, und dass erkennbar ist, in welcher Höhe die Steuerschuld auf den jeweiligen Steuerschuldner entfällt (BFH-Urteile vom 09. März 1982 VII R 47/79, Juris, unter 1. der Gründe; und vom 17. März 1994 VI R 120/92, BStBl II 1994, 536, unter 1.a der Gründe; BFH in BStBl II 1997, 306, unter I.1. der Gründe). Da der angefochtene Haftungsbescheid das FA als erlassende Behörde, die Klägerin als Haftungsschuldner, die Haftungsschuld der Höhe und der Art (Einkommensteuer 1993) nach sowie den Haftungsgrund in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ausreichend erkennen lässt, ist er hinreichend bestimmt und wirksam.
2. Der Haftungsbescheid ist jedoch rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
a) Die Rechtswidrigkeit folgt allerdings nicht – wie die Klägerin meint – daraus, dass das FA die Haftungsinanspruchnahme der Klägerin zu Unrecht auf § 70 AO gestützt haben könnte. § 70 AO kommt als Haftungsnorm auch bei der Einkommensteuer in Betracht (a.A. wohl Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 70 AO Tz. 2). Nach § 70 Abs. 1 AO haftet der Vertretene u.a., soweit er nicht Steuerschuldner ist, für verkürzte Steuern, wenn die ihn vertretenden und in den §§ 34 und 35 AO bezeichneten Personen bei Ausübung ihrer Obliegenheiten an einer Steuerhinterziehung teilnehmen und hierdurch (selbst) Haftende werden. Eine Begrenzung der Haftung des Vertretenen auf bestimmte Steuern, z.B. auf Zölle und Verbrauchssteuern, sieht § 70 AO nicht vor. Auch die im AEAO zu § 70 AO in der Fassung des Schreibens des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 15. Juli 1998 (BStBl I 1998, 630, 685) enthaltene Anweisung an die Finanzämter, § 70 AO im Bereich der Besitz- und Verkehrssteuern „nur bei Abzugssteuern” anzuwenden, vermag die Anwendung des § 70 AO im angefochtenen Haftungsbescheid nicht auszuschließen. Selbst wenn dem AEAO zu § 70 AO – entsprechend der Ansicht der Klägerin – ermessenslenkende Wirkung zukommen sollte, wäre nicht auf die Fassung des AEAO im Zeitpunkt des Erlasses des Haftungsbescheids am 22. Dezember 2004 abzustellen, sondern auf die Fassung des AEAO zu § 70 AO im Zeitpunkt der für die Ausübung eines Ermessens maßgeblichen letzten Verwaltungsentscheidung, hier in der Einspruchsentscheidung vom 29. September 2006. Durch das BMF-Schreiben vom 04. August 2005 IV A 4 – S 0062 – 4/05 (BStBl I 2005, 838) ist der AEAO zu § 70 AO jedoch dahingehend geändert worden, dass § 70 AO im Bereich der Besitz- und Verkehrssteuern „insbesondere” bei Abzugssteuern anzuwenden sei.
b) Der Haftungsbescheid ist jedoch rechtswidrig, weil sich der Senat aus dem ...