Entscheidungsstichwort (Thema)
Erhebungs-/Vollzugsdefizit als neue Tatsache
Leitsatz (redaktionell)
Die Feststellung des Erhebungs-/Vollzugsdefizits im Rahmen der Besteuerung von Spekulationsgewinnen gemäß § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b) EStG durch das Bundesverfassungsgericht durch Urteil vom 09.03.2004 stellt eine neue Tatsache dar, die eine Berichtigung vor Veröffentlichung der Entscheidung (im Streitfall in den Jahren 2000 bzw. 2001) erlassener Einkommensteuerbescheide gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zulässt.
Normenkette
AO § 173 Abs. 1 Nr. 2; BVerfGG § 79 Abs. 2; EStG § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Buchst. b
Nachgehend
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Einkommensteuerfestsetzung für das Jahr 1998.
Die Kläger sind Ehegatten und werden für das Streitjahr zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Neben Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft und Gewerbebetrieb erzielten die Kläger Einkünfte aus Kapitalvermögen sowie aus Spekulationsgeschäften. Aus Spekulationsgeschäften erklärte der Kläger Einkünfte i.H.v. 30.816 DM und die Klägerin i.H.v. 3.378 DM.
Der Steuerbescheid für das Jahr 1998 erging am 23.06.2000 und wurde bestandskräftig. Ein nach § 175 AO geänderter Bescheid erging am 15.05.2001. Dieser Bescheid erwuchs ebenfalls in Bestandskraft.
Am 01.06.2004 beantragten die Kläger die Änderung dieses Steuerbescheids gem. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO, da das Verfassungsgericht die Besteuerung von Spekulationsgewinnen mit Urteil vom 09. März 2004 in den Jahren 1997 und 1998 für verfassungswidrig erklärt habe. Ihre Spekulationsgewinne seien daher zu Unrecht gem. § 23 EStG der Besteuerung unterworfen worden. Da die Erklärung im Jahr 2000 eingereicht worden sei, sei die Festsetzungsfrist noch nicht abgelaufen. Zudem handele es sich um eine neue, nachträglich bekannt gewordene Tatsache nach § 173 AO, an derem verspäteten Bekanntwerden sie, die Kläger, kein Verschulden treffe.
Der Beklagte wies den Antrag mit Entscheidung vom 09.06.2004 zurück.
Dagegen erhoben die Kläger Einspruch, der mit Entscheidung vom 23.03.2005 in vollem Umfang als unbegründet zurückgewiesen wurde.
Gegen diese Entscheidung erhoben die Kläger die vorliegende Klage, mit der sie erneut die Änderung des Einkommensteuerbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO, hilfsweise gem.
§ 175 Abs. 1 Nr. 2 AO begehren. Nach ihrer Auffassung sei die Erklärung der Verfassungswidrigkeit der Norm des § 23 Abs. 1 Nr. 1 b) EStG für das Jahr 1998 durch das BVerfG eine neue Tatsache, die ihnen nachträglich bekannt geworden sei. Jedenfalls sei aber die dieser Entscheidung zugrunde liegende Feststellung eines Vollzugsdefizits eine neue Tatsache, für die sämtliche Änderungsvoraussetzungen nach § 173 AO gegeben seien. Für ihre ausführlichen rechtlichen Ausführungen zu dieser Problematik wird in vollem Umfang auf Bl. 43 bis 56 sowie Blatt 119 f der FG-Akte Bezug genommen. Soweit das Gericht dieser Auffassung nicht folgen wolle, sei jedenfalls eine Änderung nach § 175 Abs. 1 Nr. 5 AO wegen Eintritts eines rückwirkenden Ereignisses geboten. Die Entscheidung des BVerfG's vom 09. März 2004 stelle ein solches rückwirkendes Ereignis dar (bezüglich der weiteren Ausführungen wird auch hier auf Blatt 50 ff verwiesen).
Ihren ursprünglich hilfsweise gestellten Erlassantrag nach § 227 AO halten die Kläger nicht mehr weiter aufrecht.
Die Kläger beantragen,
den Einkommensteuer 1998 unter Berücksichtigung eines zu versteuernden Einkommens i.H.v. 1.815.361 neu festzusetzen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Nach seiner Auffassung ist weder die Norm des § 173 AO noch die des § 175 AO in dem Falle anwendbar, dass eine Gesetzesnorm, die – jedenfalls Teilen eines bestandskräftigen Steuerbescheids zugrunde liegt – vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt wurde. Für die Anwendung des § 173 AO fehle es nicht nur an einer neuen Tatsache im Sinne dieser Norm, darüber hinaus sei – selbst wenn er, der Beklagte, mit den Klägern von einer neuen Tatsache ausgehen wollte – jedenfalls keine Rechtserheblichkeit dieser Tatsache gegeben. § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO sei nicht auf rückwirkende Gesetze oder Gesetzesänderungen anzuwenden, so dass diese Norm ebenfalls keine Änderungsmöglichkeit für die Kläger eröffne. Für Einzelheiten zu diesen Ausführungen wird auf Bl. 59 bis 61 der FG-Akte verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet.
Die Ablehnung der Änderung des Einkommensteuerbescheids 1998 vom 23.06.2000 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 15.05.2001 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 101 Satz 1 Finanzgerichtsordnung – FGO –). Der Beklagte ist daher verpflichtet, den o.g. Bescheid nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu ändern.
a. § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO
Steuerbescheide sind aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst n...