Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtsschutzbedürfnis bei Vorliegen eines Vorläufigkeitsvermerkes
Leitsatz (redaktionell)
- Bei einer unzulässigen Klage sind die Kosten des Verfahrens nach § 138 Abs. 1 FGO der Klägerin aufzuerlegen, auch wenn dem Klagebegehren entsprochen wird
- Auch bei Vorliegen eines Vorläufigkeitsvermerks ist die Klage nicht wegen fehlendem Rechtsschutzbedürfnis unzulässig.
Normenkette
FGO § 138 Abs. 1-2, § 136 Abs. 1 S. 3
Streitjahr(e)
1991
Tatbestand
Der Beklagte hat dem im gerichtlichen Verfahren gestellten Antrag der Kläger, einen hälftigen Kinderfreibetrag von 1.700 DM anstatt in Höhe von bisher 1.512 DM zu berücksichtigen (Streitwert: 66 DM), auf der Grundlage der Vorschrift des § 53 Einkommensteuergesetz i.d.F. des Gesetzes zur Familienförderung vom 22.12.1999 (Bundesgesetzblatt I S. 2552) durch Herabsetzung der Einkommensteuer um 61 DM mit im Klageverfahren geändertem Bescheid vom 14.11.2000 weitgehend entsprochen. Die Beteiligten haben daraufhin den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt. Es ist deshalb nur noch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden.
Diese sind dem Beklagten aufzuerlegen.
Entscheidungsgründe
Gemäß § 138 Abs. l Finanzgerichtsordnung (FGO) ist die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens nach billigem Ermessen zu treffen; der bisherige Sach- und Streitstand ist zu berücksichtigen. Nach § 138 Abs. 2 Satz l FGO sind die Kosten der Behörde u.a. aufzuerlegen, soweit ein Rechtsstreit - wie vorliegend - dadurch erledigt wird, dass dem Antrag des Steuerpflichtigen durch Änderung des angefochtenen Verwaltungsakts stattgegeben wird. Die Regelung in Abs. 2 stellt jedoch lediglich eine Konkretisierung des wichtigsten Anwendungsfalls des Abs. l dar. Die Kostenfolge ergibt sich deshalb nicht aus Abs. 2, sondern aus Abs. l des § 138 FGO, wenn bei einer unzulässigen Klage dem Klagebegehren entsprochen wird; in einem solchen Fäll sind die Kosten grundsätzlich dem Kläger aufzuerlegen (Beschluss des Bundesfinanzhofs - BFH- vom 8.8.1974 1V R 131/73, Bundessteuerblatt - BStBl - 1974, 749; Ruban in Gräber, FGO, 4. Aufl., § 138 Rz 33).
Vorliegend kann die Klage jedoch nicht als unzulässig angesehen werden. Denn zwar fehlt nach der Rechtsprechung des BFH grundsätzlich das Rechtsschutzinteresse für eine Klage, wenn der angefochtene Steuerbescheid in einem verfassungsrechtlichen Streitpunkt vorläufig ergangen ist, die verfassungsrechtliche Frage sich in einer Vielzahl im Wesentlichen gleichgelagerter Verfahren stellt und bereits ein nicht von vornherein aussichtsloses Musterverfahren beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anhängig ist (vgl. zusammenfassend den Beschluss des BFH vom 22.3.1996 III B 173/95, BStBl II 1996, 506).
Ungeachtet der Tatsache, dass für das Streitjahr 1991 wegen des Kinderfreibetrags kein Musterverfahren anhängig war - die Verfassungsbeschwerde 2 BvR 1858/97 wurde nicht zur Entscheidung angenommen - ist nach dieser Rechtsprechung aber auch das Rechtsschutzbedürfnis für einen Rechtsbehelf gegen einen vorläufigen Bescheid nur dann zu verneinen, wenn feststeht, dass sich der verfassungsrechtliche Streit durch die Entscheidung in einem bereits anhängigen Musterverfahren erledigen wird (BFH, a.a.O., unter II. 2. Der Gründe). Hieraus und im Übrigen bereits aus allgemeinen Grundsätzen ergibt sich, dass das Rechtsschutzbedürfnis für einen Rechtsbehelf nur dann verneint werden kann, wenn feststeht, dass der Rechtsbehelfsführer durch den Rechtsbehelf keine bessere Rechtsposition erlangen kann als die, die er durch die Vorläufigkeit des Bescheids ohnehin schon innehat (vgl. Brockmeyer, Deutsches Steuerrecht 1996, 1325).
Hiervon kann jedoch in Bezug auf die Frage einer verfassungsrechtlich gebotenen Höhe der Kinderfreibeträge jedenfalls aus heutiger Sicht nicht mehr ausgegangen werden. Denn das BVerfG hat zwar in den Beschlüssen vom 10.11.19982 BvL 42/93, 2 BvR 1220/93 sowie 2 BvR 1852/97 und 1853/97, BStBl II 1999, 174, 193 und 194, die Vorschrift des § 32 Abs. 6 EStG u.a. - für das jeweilige Streitjahr und die jeweilige Kinderzahl - als mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt, in den Gründen dem BFH aber aufgegeben, in den vorliegenden und allen bei ihm anhängigen Parallelverfahren die Möglichkeit einer verfassungsrechtlich veranlassten Herabsetzung der Einkommensteuerschuld auch ohne Durchführung eines gesonderten Billigkeitsverfahrens zu prüfen und damit ggf. eine gesetzliche Neuregelung mit Wirkung für zurückliegende Veranlagungsjahre und für „wenige Fälle" überflüssig zu machen.
Diese Ausführungen, deren Sinn und Bedeutung sich nicht ohne Weiteres erschließt, haben - zwangsläufig - eine Diskussion darüber veranlasst, in welchem Umfang und insbesondere in welchen Fällen eine „Nachbesserung" hinsichtlich der Kinderfreibeträge hiernach nun eigentlich überhaupt geboten war. So hat insbesondere der Richter am BFH Kanzler es als rechtlich möglich angesehen und sogar empfohlen, die bloß vorläufig ergangenen, formell bestandskräftigen Steuerfestsetzungen aus haushalts...