Karl Blesinger, Dr. Andreas Viertelhausen
Tz. 6
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Aus der Fassung des § 191 Abs. 1 AO, wonach der Haftungsschuldner durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden kann, ist zu entnehmen, dass der Erlass des Haftungsbescheids im pflichtgemäßen Ermessen (s. § 5 AO; Ausnahme: s. § 13c Abs. 2 Satz 2 UStG) des FA steht (h. M.: Loose in Tipke/Kruse, § 191 AO Rz. 36; Boeker inHHSp, § 191 AO Rz. 29; ständige Rechtsprechung, BFH v. 08.11.1988, VII R 78/85, BStBl II 1989, 118; BFH v. 05.09.1989, VII R 61/87, BStBl II 1989, 979). § 156 Abs. 2 AO enthält für die Steuerfestsetzung den Gedanken, dass diese aus verwaltungsökonomischen Gründen unterbleiben kann. Entsprechendes gilt auch für das Haftungsverfahren, denn es würde keinen Sinn machen, das FA zum Erlass eines Bescheids zu zwingen, wenn von Anfang an feststeht, dass die Forderung nicht realisierbar ist. Bei diesem Entschließungsermessen geht es um die Frage, ob überhaupt ein Haftungsbescheid erlassen werden soll. Auch der Erlass eines Duldungsbescheids unterliegt dem Ermessen des FA. Auch aus dem Umstand, dass Stpfl. und Haftungsschuldner (ebenso wie mehrere für denselben Anspruch aus dem Steuerschuldverhältnis Haftende) Gesamtschuldner sind (§ 44 Abs. 1 AO; s. § 44 AO Rz. 5), ergibt sich die Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung. Zwar ist der Haftungsanspruch nicht subsidiär, doch bedeutet Haftung eben Einstehen für eine fremde Schuld. Diese Konstellation prägt das Ermessen des FA: regelmäßig ist sie gehalten, zunächst den Steueranspruch geltend zu machen (BFH v. 08.07.2004, VII B 257/03, BFH/NV 2004, 1523 zum Rückforderungsanspruch gegenüber einem Zessionar) – sofern nicht der Haftende Entrichtungsschuldner und insofern primär verpflichtet ist. Entschließt sich das FA zum Erlass des Haftungsbescheids, ist es nicht erforderlich, dass bereits die Voraussetzungen des § 219 Satz 1 AO erfüllt sind. Denn aus der Zusammenschau von § 191 AO und § 219 Satz 1 AO folgt, dass der Erlass eines leistungsgebotslosen Haftungsbescheids vor Erfüllung der das Leistungsangebot rechtfertigenden Umstände erfolgen kann. Steht im Zeitpunkt des Ergehens des Haftungsbescheids allerdings fest, dass beim Stpfl. "nichts zu holen ist" (und diese Situation lag in fast allen Fällen vor, die Entscheidungen des BFH zur Geschäftsführerhaftung zugrunde liegen), reduziert sich der Ermessensspielraum. Ergibt sich aber aus den Gesamtumständen, dass auch die Realisierung der Haftungsforderung wenig Aussicht auf Erfolg hat, so ist dies ein Umstand, der das FA unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit der Mittel, insbes. aber auch der Verwaltungsökonomie berechtigt, vom Erlass eines Haftungsbescheids Abstand zu nehmen.
Tz. 7
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Aus der Rechtsprechung seien folgende Entscheidungen erwähnt: Entscheidendes Kriterium für die Ermessensausübung ist nicht stets allein die Frage, ob das FA mit ausreichendem Nachdruck und ohne pflichtwidrige Verzögerung die Verwirklichung des Anspruchs gegen den Stpfl. betrieben hat bzw. betreiben hätte können (BFH v. 28.02.1973, II R 57/71, BStBl II 1973, 573). Der Inanspruchnahme eines GmbH-Geschäftsführers im Wege der Haftung wegen nicht abgeführter Lohnabzugsbeträge kann nicht entgegengehalten werden, dass das FA über einen längeren Zeitraum von seinen Befugnissen zur Überwachung des Lohnsteuerabzugs und zur Beitreibung der Lohnabzugsbeträge keinen Gebrauch gemacht hat (BFH v. 11.08.1978, VI R 169/75, BStBl II 1978, 683). Hat eine Bank der Gesellschaft Bankmittel mit der ausdrücklichen Bestimmung zur Verfügung gestellt, dass sie nur für Nettolohnzahlungen verwendet werden dürfen, haftet der Geschäftsführer der Gesellschaft trotzdem (BFH v. 12.07.1983, VII B 19/83, BStBl II 1983, 655). Die Inanspruchnahme des Haftenden wird auch nicht deshalb ermessensfehlerhaft, weil der leistungsempfangende Unternehmer die Umsatzsteuer nur mangels gesonderter Inrechnungstellung der Umsatzsteuer nicht als Vorsteuerabzug geltend machen konnte, also eine faktische "Nullsituation" eingetreten war (BFH v. 07.07.1983, V R 197/81, BStBl II 1984, 70). Auch ist die Heranziehung des Hinterziehers von Einfuhrumsatzsteuer als Haftungsschuldner nicht schon deshalb rechtswidrig, weil die Steuer im Falle ihrer Entrichtung von dem einführenden Unternehmer als Vorsteuer hätte abgezogen werden können (BFH v. 05.06.1985, VII R 57/82, BStBl II 1985, 688, BFH v. 21.02.1989, VII R 165/85, BStBl II 1989, 491). Derjenige, der Haftungsschuldner kraft Tatbestandsverwirklichung ist, trägt grundsätzlich das Risiko, dass die Steuerforderung bei dem Steuerschuldner nicht beigetrieben werden kann (BFH v. 04.07.1979, VII R 165/85, BStBl II 1980, 126; BFH v. 22.07.1986, VII R 191/82, BFH/NV 1987, 140 bezüglich Geschäftsführerhaftung).
Tz. 8
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Wenn die Rechtsprechung eine ermessenfehlerhafte Inanspruchnahme ausnahmsweise annimmt, z. B. dann, wenn das Fehlschlagen der Beitreibung der Steuerforderung auf einer besonders groben Pflichtverletzung des FA beruht, werden ...