Tz. 29
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Kommt es trotz einer ordnungsgemäßen Büroorganisation infolge eines "Büroversehens" zu einer Fristversäumnis, ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, und zwar auch dann, wenn es sich um fristgebundene Handlungen des Berufsträgers selbst handelt, deren Durchführung er seinem eigenen Büro übertragen hat. Voraussetzung ist, dass eine ordnungsgemäße Büroorganisation glaubhaft gemacht worden ist (BFH v. 13.05.1992, III R 74/91, BFH/NV 1992, 831; BFH v. 29.05.2008, II B 68/07, BFH/NV 2008, 1522; BGH v. 19.09.2017, VI ZB 40/16, MDR 2017, 1380 m. w. N.). Bei Vorliegen besonderer Umstände, wie z. B. Verlegung der Kanzlei, müssen besondere Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden, um Fehler im Arbeitsablauf zu vermeiden. Bei Zustellung von Rechtsbehelfsentscheidungen muss der Zustellungsvermerk geprüft, der Briefumschlag zu den Akten genommen und bei Fehlen eines solchen Vermerkes eine zuverlässige Auskunft über den Zustellungszeitpunkt eingeholt werden. Desgleichen muss bei Zustellung durch die Behörde gegen Empfangsbekenntnis dafür gesorgt werden, dass bei Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses der Zustellungstag auf dem Schriftstück oder sonst in den Akten vermerkt wird (BFH v. 16.08.1979, IV R 41/79, BStBl II 1980, 154). Dies muss u. E. nicht zwingend durch einen Berufsträger erfolgen, vielmehr kann auch diese Tätigkeit übertragen werden. Dies gilt auch für Überwachung von Revisions(begründungs)pflichten (a. A. BFH v. 25.02.1999, X R 102/98, BFH/NV 1999, 1221), da vor allem bei größeren Kanzleien eine Überwachung durch Berufsträger kaum zu sicherer Fristenkontrolle führen wird als bei versierten Angestellten.
Der Umstand, dass sich der Berufsträger nach dem plötzlichen Tod eines nahen Angehörigen zwei Wochen lang nicht um seine Kanzlei gekümmert und keinen Vertreter bestellt hat, ist kein entschuldbares Büroversehen. Ein Berufsträger muss allgemein für Fälle seines unerwarteten Fernbleibens vom Büro, z. B. wegen Erkrankung, Vorsorge treffen (s. BGH v. 24.10.1985, VII ZB 16/85, HFR 1987, 316; BFH v. 18.01.1993, X R 83/91, BFH/NV 1993, 427). Dies gilt erst recht bei geplanten (Urlaubs-)Abwesenheiten (BGH v.13.07.2017, IX ZB 110/16, MDR 2017, 1070). Bei unerwarteter plötzlicher Erkrankung des Berufsträgers muss deshalb auch vorgetragen werden, warum er nicht habe (generell) Vorsorge treffen können, dass die Frist gewahrt werde (BFH v. 09.08.1989, IX R 163/85, BFH/NV 1990, 303). U. E. dürfen aber keine überspannten Anforderungen an die Vorsorge gestellt werden.
Tz. 30
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Auf eine grundsätzlich ordnungsmäßige Büroorganisation und damit auf ein Büroversehen kann sich ein Berufsträger nicht berufen, wenn ein Fall büromäßig ordnungsmäßig festgehalten, überwacht und rechtzeitig dem Sacharbeiter – sei es dem Berufsträger selbst oder seinem Mitarbeiter (Assistenten) – zur sachlichen Bearbeitung vorgelegt wurde und erst diesen Personen ein Versäumnis unterlaufen ist (BFH v. 26.05.1977, V R 139/73, BStBl II 1977, 643; BFH v. 05.11.2008, VII B 15/08, BFH/NV 2009, 589). Denn der prozessbevollmächtigte Berufsträger bleibt verpflichtet, den Fristablauf eigenverantwortlich nachzuprüfen, wenn ihm die Sache zur Vorbereitung der fristgebundenen Handlung – und sei es auch ohne Akten – vorgelegt wird (BFH v. 08.04.1992, II R 73/91, BFH/NV 1992, 829; BFH v. 15.10.1999 III B 51/99, BFH/NV 2000, 575). So kommt z. B. eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dann nicht in Betracht, wenn der Berufsträger, der die von einem juristischen Mitarbeiter gefertigte Rechtsbehelfsschrift unterzeichnet, übersieht, dass sie nicht an das richtige Gericht adressiert ist (BFH v. 27.03.1968, VII R 21–22/67, BStBl II 1968, 535). Ist jedoch der Rechtsbehelf an die richtige Behörde am richtigen Ort gerichtet, so darf sich der Bevollmächtigte im Übrigen darauf verlassen, dass seine Angestellten die Anschrift richtig aus den Akten übernommen haben, es sei denn, dass die Anschrift offensichtlich unzureichend erscheint (BFH v. 10.02.1971, I R 97/70, BStBl II 1971, 332). Diese feinen und oftmals von älterer Rspr. geschaffenen Differenzierungen sind kaum nachvollziehbar. U. E. dürfen im Hinblick auf die Gewährung effektiven Rechtsschutzes keine überspannten Forderungen gestellt werden.
Tz. 31
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Kein Verschulden des Berufsträgers, sondern eine die Wiedereinsetzung ausschließende schuldhafte Unterlassung des Auftraggebers (Steuerpflichtigen) liegt vor, wenn der Pflichtige seinen Bevollmächtigten nicht unmissverständlich mit der Einlegung des Rechtsbehelfs beauftragt. Dies gilt insbes. dann, wenn der Bevollmächtigte dem Pflichtigen Zweifel an den Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs mitgeteilt hat und sich aus den Umständen ergibt, dass der Bevollmächtigte eine eindeutige Weisung des Pflichtigen abwarten will (BFH v. 29.09.1971, I R 64/71, BStBl II 1972, 91).