Tz. 43
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Berücksichtigung des bestimmten Sachverhaltes muss in der Annahme unterblieben sein, dass der Sachverhalt in einem anderen Steuerbescheid, nämlich eines anderen Stpfl., eines anderen Veranlagungszeitraums oder einer anderen Steuerart zu berücksichtigen sei. Hierüber muss das FA eine konkrete Vorstellung gehabt haben, ein bloßes Versehen oder ein die Zuordnung betreffender Rechtsirrtum ist nicht ausreichend. Maßgeblich ist die Vorstellung des für die Steuerfestsetzung zuständigen Amtsträgers (BFH v. 03.03.2005, V B 1/04, BFH/NV 2005, 1222; kritisch: von Groll in HHSp, § 174 AO Rz. 186). "Annahme" setzt einen über die rein mechanische Übernahme eines aufseiten des Stpfl. aufgetretenen Fehlers hinausgehenden kognitiven Prozess voraus (vgl. Frotscher in Schwarz/Pahlke, AO/FGO, § 174 AO Rz 105). Die mangelnde Kenntnis davon schließt die Anwendung des § 174 Abs. 3 AO daher denklogisch aus (BFH v. 17.05.2017, X R 45/16, BFH/NV 2018, 10). Nicht erforderlich ist, dass der Sachverhalt auch in dem anderen Bescheid berücksichtigt oder dass dieser Bescheid überhaupt erlassen wurde (BFH v. 29.05.2001, VIII R 19/00, BStBl II 2001, 743; s. AEAO zu § 174, Nr. 6 Abs. 1). Die – jeder Verstrickung immanente – Annahme, dass stille Reserven früher oder später realisiert werden, reicht für die nach § 174 Abs. 3 AO erforderliche Annahme einer Berücksichtigung in einem anderen Steuerbescheid nicht aus (von Wedelstädt in Gosch, § 174 AO Rz. 71). Die Ansicht des BMF, stille Reserven, die auf eine GbR übergegangen sind, die bisher irrigerweise als gewerblich angesehen worden ist, könnten durch Änderung der entsprechenden Steuerbescheide nach § 174 Abs. 3 AO noch besteuert werden (BMF v. 28.08.2001, IV A 6 – S 2240–49/01, BStBl I 2001, 614; ernstliche Zweifel hieran BFH v. 27.01.2004, X B 116/03, BFH/NV 2004, 913), ist daher abzulehnen. Die hier vertretene Auffassung wurde ausdrücklich vom BFH bestätigt (BFH v. 14.01.2010, IV R 33/07, BStBl II 2010, 586 im Anschluss der BFH v. 27.01.2004, X B 116/03, BFH/NV 2004, 913; dazu auch Günther, AO-StB 2010, 340), weil es sich dabei nicht um einen identischen Sachverhalt i. S. d. § 174 Abs. 3 AO handelt. Unerheblich ist, ob die Berücksichtigung des Sachverhaltes den Betroffenen belastet oder begünstigt. Auf Seiten der Finanzbehörde können eine oder mehrere Behörden beteiligt sein.
Tz. 44
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Annahme, der Sachverhalt müsse in einer anderen Steuerfestsetzung erfasst werden, muss sich im Nachhinein als unrichtig erweisen (s. Rz. 51) und ursächlich für die Nichtberücksichtigung gewesen sein (BFH v. 09.04.2003, X R 38/00, BFH/NV 2003, 1035). Von der notwendigen Kausalität ist nicht auszugehen, wenn die Nichtberücksichtigung des Sachverhaltes darauf beruht, dass das FA annahm, der Sachverhalt habe keine steuerliche Relevanz oder dass die Finanzbehörde von dem Sachverhalt keine Kenntnis hatte (z. B. BFH v. 11.08.2011, V R 54/10, BFH/NV 2011, 2017; BFH v. 27.08.2014, II R 43/12, BStBl II 2015, 241).
Tz. 45
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
vorläufig frei