Tz. 12
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Ein Steuerbescheid kann auch dann für vorläufig erklärt werden, wenn die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens (Musterprozess) beim EuGH, dem BVerfG oder einem obersten Bundesgericht ist, nicht aber beim EGMR (Seer in Tipke/Kruse, § 165 AO Rz. 15 m. w. N.). Diese Regelung dient vor allem der Vermeidung von Einsprüchen, die vorsorglich eingelegt werden, weil Entscheidungen des BVerfG nach § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG bestandskräftige Bescheide unberührt lassen und auch keine Grundlage für eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO oder § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO bilden. Sie schränkt den Rechtsschutz des Stpfl. nicht in verfassungswidriger Weise ein. Der Rechtsschutz wird auch nicht dadurch in verfassungswidriger Weise eingeschränkt, dass die Finanzbehörde auf einen Einspruch des Stpfl. gegen die Steuerfestsetzung vorab über entscheidungsreife Teile seines Einspruchs entscheidet (BFH v. 30.09.2010, III R 39/08, BStBl II 2011, 11 m. w. N.). Durch die vorläufige Steuerfestsetzung wird sichergestellt, dass eine eventuelle Gesetzesänderung aufgrund einer Entscheidung des BVerfG auch bei einer schon durchgeführten Steuerfestsetzung zugunsten des Stpfl. berücksichtigt werden kann. Einsprüche aus diesem Grund sind also nicht mehr erforderlich. § 171 Abs. 8 AO regelt in diesen Fällen eine Ablaufhemmung von zwei Jahren.
Tz. 13
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Voraussetzung für die Vorläufigkeit ist, dass wegen der Frage der Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht ein Verfahren vor den genannten Gerichten anhängig ist (BFH v. 06.10.1995, III R 52/90, BStBl II 1996, 20). Hat sich das Verfahren, das Anlass für die vorläufige Festsetzung war, in welcher Weise auch immer erledigt, ist aber inzwischen ein anderes einschlägiges Verfahren anhängig geworden, bleibt der Tatbestand des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO gleichwohl erfüllt, sofern die Vorläufigkeit nicht beschränkt ist auf die zum Zeitpunkt der vorläufigen Festsetzung anhängigen Verfahren. Sind die Musterverfahren, die der vorläufigen Festsetzung zugrunde liegen, auf welche Weise auch immer beendet, ist die Ungewissheit entfallen, selbst wenn die betreffende Rechtsfrage noch nicht entschieden ist (BFH v. 30.09.2010, III R 39/08, BStBl II 2011, 11 m. w. N.). Die Anhängigkeit bei einem oder mehreren FG genügt nicht. Das BMF teilt in dem im BStBl I veröffentlichten Schreiben den Katalog der Punkte mit, derentwegen Steuerbescheide vorläufig – regelmäßig automationsgesteuert – ergehen sollen. Nicht erforderlich ist, dass die zur Entscheidung berufene Finanzbehörde von der Anhängigkeit Kenntnis hat oder haben müsste (BFH v. 18.12.2001, VIII R 27/96, BFH/NV 2002, 747). Der Vorläufigkeitsvermerk kann nicht auf sämtliche noch offenen Fragen der Anwendung und Auslegung des einfachen Gesetzesrechts bezogen werden (BFH v. 02.07.2008, X B 39/08, BFH/NV 2008, 1645). Das auf dem Prüfstand stehende Steuergesetz muss für die fragliche Besteuerung relevant sein, d. h. Vorschrift und Sachverhalt im Musterprozess und im Besteuerungsverfahren müssen in Bezug auf die verfassungsrechtliche Frage im Wesentlichen gleichgelagert sein (s. dazu BFH v. 22.03.1996, III B 173/95, BStBl II 1996, 506 m. w. N.); es muss dieselbe Vorschrift, nicht aber dasselbe Streitjahr betroffen sein; es darf sich in dem Musterverfahren nicht um einen Sachverhalt handeln, der zusätzliche, ggf. sogar vorrangige Streitfragen aufwirft. Bereits unanfechtbare Steuerbescheide können allerdings nicht im Hinblick auf anhängige "Musterprozesse" nachträglich für vorläufig erklärt werden (BFH v. 11.02.1994, III R 117/93, BStBl II 1994, 380; Seer in Tipke/Kruse, § 165 AO Rz. 17). Ein Anspruch des Stpfl. auf generelle Vorläufigkeitserklärung hinsichtlich anhängiger Rechtsfragen besteht nicht (FG Köln v. 07.12.2006, 10 K 3795/06, EFG 2007, 734). Andererseits können bei fristgerechten Einsprüchen gegen endgültige Steuerbescheide wegen zwischenzeitlicher Anhängigkeit eines Musterprozesses oder aus anderen Gründen die Steuerbescheide als Abhilfe oder bei mehreren Begehren als Teilabhilfe nachträglich für vorläufig erklärt werden; einer Zustimmung oder vorherigen Anhörung (§ 367 Abs. 2 Satz 2 AO) des Stpfl. bedarf es dabei nicht, da entweder dem Begehren des Stpfl. durch die Vorläufigkeit entsprochen wird oder aber wegen der zu erwartenden Auswirkungen der Beseitigung der Ungewissheit eine Verböserung nicht in Betracht kommt. Rechtsposition und Rechtsschutzmöglichkeiten des Stpfl. werden nicht beeinträchtigt (BFH v. 23.01.2013, X R 32/08, BStBl II 2013, 423).
Tz. 14
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Es fehlt am Rechtsschutzinteresse für einen Rechtsbehelf wegen Zweifeln an der Verfassungswidrigkeit einer Rechtsnorm, wenn deswegen der Steuerbescheid – spätestens im Einspruchsverfahren – vorläufig ergangen ist (st. Rspr.; BFH v. 09.08.1994, X B 26/94, BStBl II 1994, 803; BFH v. 22.03.1996, III B 173/95, BStBl II 1996, 506; ebenso AEAO zu §...