Tz. 23
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Ein unverschuldeter Rechtsirrtum kann nur dann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen, wenn er sich auf die rechtlichen Vorschriften über die einzuhaltende Frist oder die Form des fristgebundenen Handelns bezieht, nicht jedoch auf das materielle Recht (BFH v. 29.08.2017, VIII R 33/15, BStBl II 2018, 69). Bei Letzterem wird der Betroffene nicht gehindert, die Frist einzuhalten. Dies gilt auch, wenn sich eine günstigere Rechtslage für den Stpfl. erst nach einer Entscheidung des BFH, BVerfG oder EuGH ergibt; eine nach Eintritt der Bestandskraft ergehende Entscheidung rechtfertigt eine Wiedereinsetzung nicht (BFH v. 16.09.2010, V R 57/09, BStBl II 2011, 151; BFH v. 29.02.2012, IX R 3/11, BFH/NV 2012, 915). Eine Ausnahme kann aber dann gelten, wenn die Finanzbehörde den Irrtum über die materielle Rechtslage herbeigeführt hat und der Betroffene im Vertrauen darauf auf fristwahrende Maßnahmen verzichtet (s. Rz. 10). Dies gilt z. B. bei unklaren oder falschen Belehrungen. Dies gilt auch für Belehrungen, die die Finanzbehörde z. B. bei der Vorbereitung der Übersendung elektronischer Steuererklärungen in elektronischer Form bereitstellt. Ein Auslegungsirrtum über die Berechnung und den Ablauf einer Frist wird auch bei einem unkundigen Stpfl. in der Regel verschuldet sein, wenn sich die Frist eindeutig aus der Rechtsmittelbelehrung ergibt (BFH v. 20.02.2001, IX R 48/98, BFH/NV 2001, 1010). Auch ein Irrtum über das Wesen einer Ausschlussfrist betrifft das Verfahrensrecht und schließt Wiedereinsetzung nur aus, wenn er verschuldet ist. Dies wird in der Regel anzunehmen sein, da sich der Stpfl. bei Zweifeln hinsichtlich des Fristablaufs über das Fristende zu informieren hat (BFH v. 23.07.1992, VIII R 73/91, BFH/NV 1993, 40; s. aber auch Rz. 10). Gleiches dürfte auch bei einem Irrtum über die zutreffende Form der fristwahrenden Erklärung gelten.
Bei unklarer Rechtslage über das durchzuführende Verfahren kann hingegen ein Irrtum des Stpfl. in seltenen Fällen entschuldbar sein, wenn er trotz vertretbarer rechtlicher Überlegungen einen falschen Verfahrensweg wählt und deshalb die Frist für die zutreffende Erklärung verstreicht (Brandis in Tipke/Kruse, § 110 AO Rz. 14). I. d. R. ist dem Stpfl. aber auch zumutbar, bei unklarer Rechtslage zunächst vorsorglich fristwahrende Anträge oder Erklärungen abzugeben.
Ein unverschuldeter Rechtsirrtum wird i. d. Regel auch dann anzunehmen sein, wenn ein VA/Bescheid dem Stpfl. vor dem Bescheiddatum bekannt gegeben wird, der Stpfl. aber den Fristlauf nach dem Datum des Bescheides berechnet (BFH v. 20.11.2008, III R 66/07, BStBl II 2009, 185).
Tz. 24
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Wird in Bezug auf einen schriftlichen Verwaltungsakt, der ohne Rechtsbehelfsbelehrung erteilt wurde, die Frist zur Anfechtung versäumt, erübrigt sich die Prüfung der Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem. § 110 Abs. 1 AO, weil nach § 356 Abs. 1 AO die Rechtsbehelfsfrist nicht zu laufen beginnt. Dies gilt in gleicher Weise für eine unvollständige oder fehlerhafte Rechtsmittelbelehrung. Dabei ist eine Rechtsbehelfsbelehrung auch dann unvollständig, wenn der Hinweis auf die Möglichkeit einer elektronischen Übermittlung des Rechtsbehelfs fehlt (FG SchlH v. 21.06.2017, 5 K 7/16, EFG 2017, 1405; a. A. FG Ha v. 19.06.2016, 2 K 138/15, DStRE 2017, 1126). Eine fehlende Anschrift oder Telefaxnummer ist hingegen kein Fehler, der zur Anwendung der Jahresfrist führt; sie kann aber ein Grund für eine Wiedereinsetzung sein, wenn sie Ursache für eine Fristversäumnis ist (BFH v. 18.01.2017, VII B 158/16, BFH/NV 2017, 603; FG Köln v. 22.02.2017, 4 K 719/16, EFG 2017, 1319; s. aber die Gegenansicht in § 156 Rz. 6). Sofern Unsicherheit besteht, ob die Rechtsbehelfsbelehrung an Mängeln leidet, sollte in der Praxis vorsorglich auch die Frage eines Wiedereinsetzungsantrags erwogen werden.