Tz. 24
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Nach Treu und Glauben ist eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ("die zu einer höheren Steuer" führt) dann nicht zulässig, wenn die Nichtkenntnis auf einer Verletzung der amtlichen Aufklärungspflichten (§ 88 AO) beruht (BFH v. 13.11.1985, II R 208/82, BStBl II 1986, 241; BFH v. 11.11.1987, I R 108/85, BStBl II 1988, 115; BFH v. 25.02.2002, X B 77/01, BFH/NV 2002, 1121; AEAO zu § 173, Nr. 4.1; zu Treu und Glauben s. Vor §§ 204–207 AO Rz. 2). Das FA darf sich nicht zulasten des Stpfl. auf eigene Ermittlungsfehler berufen (BFH v. 26.11.1996, IX R 77/95, BStBl II 1997, 422). Die spätere Änderung eines Steuerbescheids ist allerdings nur dann treuwidrig, wenn das FA Ermittlungsmöglichkeiten nicht genutzt hat, die sich ihm bei Beachtung des § 88 AO und Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hätten aufdrängen müssen (BFH v. 29.07.2009, II R 58/07, BFH/NV 2010, 63 m. w. N.; vgl. AEAO zu § 88, Nr. 6 m. w. N.). Die Berufung auf Treu und Glauben setzt allerdings voraus, dass der Stpfl. seinerseits nicht pflichtwidrig handelt und seine Mitwirkungspflichten erfüllt (im Einzelnen Breuer, AO-StB 2004, 14, 16 ff.; BFH v. 20.04.2004, IX R 39/01, BStBl II 2004, 1072, BFH v. 18.08.2005, IV R 9/04, BStBl II 2006, 581; Schlüßel, AO-StB 2004, 279). Zwar sind beiderseitige Pflichtverstöße grundsätzlich gegeneinander abzuwägen, regelmäßig trifft die Verantwortung jedoch den Stpfl. (BFH v. 24.01.2002, XI R 2/01, BStBl II 2004, 444; BFH v. 18.08.2010, X B 178/09, BFH/NV 2010, 2010; von Wedelstädt in Gosch, § 173 AO Rz. 77), es sei denn, der Pflichtverstoß der Finanzbehörde überwiegt deutlich (BFH v. 14.12.1994, XI R 80/92, BStBl II 1995, 293; BFH v. 21.02.2017, VIII R 46/13, BStBl II 2017, 745). Der Stpfl. muss seine Steuererklärungspflichten im vollen Umfang erfüllt haben (BFH v. 26.02.2003, IX B 221/02, BFH/NV 2003, 1029). Zur Verletzung der Erklärungs- und Mitwirkungspflichten durch den Stpfl. von Wedelstädt in Gosch, § 173 AO Rz. 74 ff. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass eine Änderung oder Aufhebung des Steuerbescheides zuungunsten des Stpfl. nur dann stattfindet, wenn der Stpfl. seine Mitwirkungspflichten verletzt hat. Werden die beiderseitigen Verstöße der Finanzbehörde auf der einen Seite und des Stpfl. auf der anderen Seite verglichen und das Ergebnis zeigt einen deutlich höheren Verstoß der Finanzbehörde, findet keine Änderung oder Aufhebung des Steuerbescheides zuungunsten des Stpfl. statt. Jedoch wird bei gleichwertigem Verstoß dem Stpfl. die Verantwortung zugeschrieben, was dazu führt, dass der geänderte Steuerbescheid nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu höheren Steuern führt (Loose in Tipke/Kruse, § 173 AO, Rz. 71).
Tz. 25
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Zweifelsfragen, die sich bei Durchsicht der Akten, insbes. bei Prüfung der Steuererklärung ohne Weiteres aufdrängen, müssen schon vor der Veranlagung geklärt werden (vgl. BFH v. 14.12.1994, XI R 80/92, BStBl II 1995, 293). Eine ordnungsgemäße Auswertung eingereichter Bilanzen und sonstiger Unterlagen verwehrt die spätere Aufhebung oder Änderung wegen solcher Tatsachen, deren Erforschung sich bei nach § 88 AO erforderlicher Aufmerksamkeit schon während der ursprünglichen Veranlagung hätte aufdrängen müssen (BFH v. 23.06.1993, I R 14/93, BStBl II 1993, 806; BFH v. 12.07.2001, VII R 68/00, BStBl II 2002, 44). Das FA kann regelmäßig von der Richtigkeit und Vollständigkeit vorgelegter Steuererklärungen und Jahresabschlüsse ausgehen (BFH v. 05.08.2004, VI R 90/02, BFH/NV 2005, 501; BFH v. 07.07.2004, XI R 10/03, BStBl II 2004, 911). Die Finanzbehörden dürfen grds. darauf vertrauen, dass die Angaben der Stpfl. in den Steuererklärungen und den diesen beigefügten Anlagen in tatsächlicher Hinsicht richtig und vollständig sind (BFH v. 14.12.1994, XI R 80/92, BStBl II 1995, 293), denn der Stpfl. hat Steuererklärungen nach bestem Wissen und Gewissen abzugeben (§ 150 Abs. 2 Satz 1 AO, s. BFH v. 24.01.2002, XI R 2/01, BStBl II 2004, 444). Der Umfang der Ermittlungspflicht richtet sich nach § 88 AO und den Umständen des Einzelfalles (von Wedelstädt in Gosch, § 173 AO Rz. 68 m. w. N.; AEAO zu § 88, Nr. 2); so wird z. B. eine Ermittlungspflichtverletzung bejaht bei Nichtbeziehung von Akten anderer Stellen oder von älteren Akten (BFH v. 11.02.1998, I R 82/97; BStBl II 1998, 552; zu sog. Kellerakten aber auch FG Nds v. 14.04.2004, 3 K 88/99, EFG 2004, 1415). Tatsachen, die die Finanzbehörde kannte, aber ignorierte oder nicht weiter aufklärte, weil sie sie für unerheblich hielt, können später keine Änderung des einschlägigen Bescheids rechtfertigen (BFH v. 19.07.1968, VI R 281/66, BStBl II 1968, 699; von Wedelstädt in Gosch, § 173 AO Rz. 70 m. w. N.). Hätte die Finanzbehörde in Kenntnis des vollen Sachverhalts lediglich möglicherweise nicht anders veranlagt (AEAO zu § 173, Nr. 3.1), reicht das nicht aus; es muss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen, dass die Finanzbehörde so verfahren wäre, dass also die Unkenntnis des Sac...