Tz. 8
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Neben der Versäumung einer gesetzlichen Frist (s. Rz. 3) ist Voraussetzung für die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, dass der Betroffene ohne Verschulden verhindert war, die Frist einzuhalten, Dabei wird das Verschulden eines Vertreters dem Vertretenen zugerechnet (§ 110 Abs. 1 Satz 2 AO). Das Gesetz spricht allgemein von "Vertreter". Daraus ergibt sich, dass sowohl gesetzliche Vertreter, von Amts wegen bestellte Vertreter (§ 81 AO) als auch rechtsgeschäftlich bestellte Vertreter (§ 80 AO) in den Anwendungsbereich von § 110 Abs. 1 Satz 2 AO fallen. Eine Zurechnung kommt aber dann nicht mehr in Betracht, wenn einem StB im Zeitpunkt des Fristablaufs bereits wirksam die Steuerberaterzulassung entzogen war (BFH v. 17.03.2010, X R 57/08, BFH/NV 2010, 1780). Werden mehrere Bevollmächtigte tätig, muss sich der Vertretene das Verschulden jedes der Vertreter zurechnen lassen; dies gilt auch dann, wenn der für die Fristversäumung maßgebliche Bevollmächtigte die Sache nicht bearbeitet, sondern lediglich die Übermittlung eines Schriftsatzes übernimmt (BFH v. 15.02.1984, II R 57/83, BStBl II 1984, 320). Das Verschulden eines Unterbevollmächtigten wiederum wird dem Bevollmächtigten zugerechnet und dieses wiederum dem Vertretenen. Davon zu unterscheiden ist die Einschaltung einer Hilfsperson, z. B. zur Entgegennahme von Postsendungen, die nicht mit Vertretungsbefugnissen versehen ist. Dieser Personenkreis ist kein Vertreter i. S. von Abs. 1 Satz 2 (s. Rz. 12).
Tz. 9
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
An der Einhaltung der Frist ist man gehindert, wenn man entweder durch tatsächliche äußerliche Umstände von der Ausführung einer gewollten Handlung abgehalten oder durch physische oder psychische Einflüsse an der Willensbildung selbst gehindert wird. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand setzt zwingend voraus, dass die genannten Hemmnisse nicht vom Betroffenen verschuldet wurden. Als Verschuldensformen kommen Vorsatz und Fahrlässigkeit in Frage. Dabei schließt jedes Verschulden, auch einfache Fahrlässigkeit, die Wiedereinsetzung aus (BFH v. 07.10.2003, IX BFH/NV 2004, 11; BFH v. 29.08.2017, VIII R 33/15, BStBl II 2018, 69).
I. Vorsätzliche Fristversäumnis
Tz. 10
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Wer eine Frist bewusst und gewollt verstreichen lässt (z. B. weil er den befristeten Rechtsbehelf für aussichtslos hält), handelt nicht unverschuldet. Ein eventueller Irrtum über den Beweggrund (das Motiv) für diese vorsätzliche Fristversäumnis ist unbeachtlich. Ein Rechtsirrtum kann für die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur dann relevant sein, wenn er sich nicht auf die Zweckmäßigkeit, insbes. die Erfolgsaussicht der befristeten Handlung, sondern auf die Frist selbst (BFH v. 22.05.2006, VI R 46/04, BFH/NV 2007, 1), insbes. über die Unkenntnis einer Frist (BFH v. 29.08.2017, VIII R 33/15, BStBl II 2018, 69) oder auf die Form der Fristwahrung bezieht (st. Rspr., s. z. B. BFH 14.07.1989, III R 54/84, BStBl II 1989, 1024). Ein Irrtum über das Wesen einer bekannten Ausschlussfrist oder über das materielle Recht (die Erfolgsaussichten) rechtfertigen die Wiedereinsetzung nicht. Damit kann Wiedereinsetzung zumeist selbst dann nicht gewährt werden, wenn der Betroffene die Frist deshalb verstreichen lässt, weil die Finanzbehörde durch eine falsche Auskunft (Rechtsbelehrung) über die Erfolgsaussichten die Überlegungen des Betroffenen beeinflusst hat. Dafür spricht, dass anderenfalls jedem Rechtsunkundigen, der im Vertrauen auf die Richtigkeit und Rechtmäßigkeit des Handelns der rechtskundigen Hoheitsbehörde Fristen verstreichen lässt, Wiedereinsetzung gewährt werden müsste (allgemein zur Frage der Möglichkeit der Wiedereinsetzung bei Irrtum über die materielle Rechtslage Brandis in Tipke/Kruse, § 110 AO Rz. 14). Angesichts der Forderung des BVerfG (s. Rz. 2), die Anforderungen an eine Wiedereinsetzung nicht zu überspannen, sind jedoch auch konkrete Einzelfälle denkbar, in denen der Rechtsirrtum durch ein Verhalten der FinVerw entstanden ist, das ein schützenswertes Vertrauen begründet und ein Verschulden ausschließt. (BFH v. 29.07.2003, III B 129/02, BFH/NV 2003, 1610). Zudem können nach dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben z. B. Auswirkungen auf den Fristbeginn bzw. den Fristablauf denkbar sein. Im Zweifel stellt jedoch der Weg über eine Wiedereinsetzung die sachgerechtere Lösung dar.
II. Fahrlässige Fristversäumnis
Tz. 11
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Fahrlässigkeit ist die Außerachtlassung der erforderlichen und zumutbaren Sorgfalt. Dabei ist auf die persönlichen Verhältnisse des Betroffenen abzustellen (subjektiver Fahrlässigkeitsbegriff). Der BFH geht in st. Rspr. davon aus, dass fahrlässig und damit schuldhaft i. S. des § 110 AO handelt, wer die für einen gewissenhaft und sachgemäß handelnden Verfahrensbeteiligten gebotene und ihm nach den Umständen zumutbare Sorgfalt nicht beachtet. Dabei reicht bereits leichte Fahrlässigkeit aus (statt aller BFH v. 29.08.2017, VIII R 33/15, BStBl II 2018, 69). Für das Maß der zumutbaren Sorgfa...