Tz. 67
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
§ 175 Abs. 2 Satz 1 AO fingiert im Fall des Wegfalls der Voraussetzungen für eine Steuervergünstigung, bspw. nach § 2 InvZulG (BFH v. 20.12.2000, III B 43/00, BFH/NV 2001, 744), die Rückwirkung. Die Vorschrift setzt die steuerliche Rückwirkung nicht voraus, sondern bestimmt sie (Szymczak in K/S, § 175 AO Rz. 15). Werden die Voraussetzungen der besonderen Steuervergünstigungsnorm nicht erfüllt oder fallen sie nachträglich weg, sind bestandskräftige Steuerfestsetzungen zu ändern. Dabei wirkt der Wegfall der Voraussetzung für eine Steuervergünstigung auch bei bilanzierenden Stpfl. ohne Einschränkung auf den Beginn des Begünstigungszeitraumes zurück, da dem Stpfl. anderenfalls die Vergünstigung für mehrere Jahre erhalten bliebe, obwohl die maßgeblichen Voraussetzungen in der Folge vorzeitig entfallen waren (BFH v. 05.09.2001, I R 107/00, BStBl II 2002, 134).
Tz. 67a
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Soweit § 175 Abs. 2 Satz 1 AO in seiner zweiten Alt. auf Verwaltungsakte abstellt, welche die Grundlage der Voraussetzung für die Gewährung der Steuervergünstigung feststellen, handelt es sich nur um solche Verwaltungsakte, die nicht Grundlagenbescheide i. S. der §§ 171 Abs. 10, 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO sind, denn hierfür besteht eine eigene Änderungsvorschrift. Gemeint sind daher Verwaltungsakte, die besondere Voraussetzungen für eine Steuervergünstigung fordern (Bartone in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 1371; von Wedelstädt in Gosch, § 175 AO Rz. 70; Loose in Tipke/Kruse, § 175 AO Rz. 53; von Groll in HHSp, § 175 AO Rz. 399a).
Tz. 68
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Nach dem durch das EURLUmsG (v. 09.12.2004, BGBl I 2004, 3310, 3323) eingefügten § 175 Abs. 2 Satz 2 AO gilt die nachträgliche Erteilung oder Vorlage einer Bescheinigung oder Bestätigung nicht als rückwirkendes Ereignis i. S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO. Die Vorschrift ist nicht verfassungswidrig (BFH v. 12.05.2015, VIII R 14/13, BStBl II 2015, 806; BFH v. 10.05.2016, X R 34/13, BFH/NV 2017, 23).
Tz. 69
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 15/4050) soll durch die Vorschrift die unterschiedliche Behandlung von Bescheinigungen, die Tatbestandsmerkmal sind, und solchen, die bloß Beweismittel sind, beseitigt werden. Die Vorschrift wurde erlassen als Reaktion auf die Manninen-Entscheidung des EuGH (EuGH v. 07.09.2004, C-319/02, ABl. EU 2004, Nr. C 262, 4; vgl. auch EuGH v. 06.03.2007, C 292/04, EuGHE 2007, I-1835). In dieser entschied der EuGH, dass im Ausland gezahlte und bescheinigte KSt-Zahlungen beim inländischen Gesellschafter anzurechnen sind. Dies wäre vor Einführung des § 175 Abs. 2 Satz 2 AO über § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i. V. mit § 36 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 EStG a. F. durch nachträgliche Vorlage einer Bescheinigung über die im Ausland gezahlte KSt möglich gewesen. Aus Sorge vor Steuerausfällen hat der Gesetzgeber die vom EuGH angeordnete Anrechnung von im Ausland gezahlter KSt verfahrensrechtlich erschwert, daher wurde diese Vorschrift auch "lex Manninen" genannt (Ribbrock, RIW 2005; Balmes/Graessner, AO-StB 2005, 139; Gosch, DStR 2004, 1988). Der EuGH hat entschieden, dass der Effektivitätsgrundsatz der Regelung des § 175 Abs. 2 Satz 2 AO entgegensteht, die es rückwirkend und ohne Einräumung einer Übergangsfrist verwehrt, eine Anrechnung der ausländischen KSt auf Dividenden, die von einer Kapitalgesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat gezahlt wurden, dadurch zu erlangen, dass entweder eine den Anforderungen des Mitgliedstaats, in dem der Empfänger der Dividenden unbeschränkt steuerpflichtig ist, genügende Bescheinigung über diese Steuer oder Belege vorgelegt werden, anhand derer die Steuerbehörden dieses Mitgliedstaats eindeutig und genau überprüfen können, ob die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme eines Steuervorteils vorliegen (EuGH v. 30.06.2011, Rs. C-262/09, ABl EU 2011, Nr. C 252, 3). § 175 Abs. 2 Satz 2 AO ist demnach europarechtswidrig und bleibt wegen des Anwendungsvorrangs des Europarechts bei grenzüberschreitenden Fällen außer Anwendung und Betracht (st. Rspr.; grundlegend EuGH v. 15.07.1964, 6/64, EuGHE 10, 1251 – Costa/ENEL; aus jüngerer Zeit z. B. EuGH v. 10.04.2008, Rs. C-309/06, EuGHE 2005, I-10866 – Marks & Spencer). Bei reinen Inlandsfällen ohne europarechtlichen Bezug bleibt § 175 Abs. 2 Satz 2 AO anwendbar (z. B. BFH v. 12.05.2015, VIII R 14/13, BStBl II 2015, 806; BFH v. 10.05.2016, X R 34/13, BFH/NV 2017, 23; Bartone in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 1375; krit. von Wedelstädt in Gosch, § 175 AO Rz. 51.2). Daher ist bspw. die Vorlage der Steuerbescheinigung über die erzielten Kapitaleinkünfte wegen § 175 Abs. 2 Satz 2 AO nicht als rückwirkendes Ereignis anzusehen (BFH v. 12.05.2015, VIII R 14/13, BStBl II 2015, 806).
Tz. 70
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Nach Art. 97 § 9 Abs. 3 EGAO i. d. F. durch Art. 8a EURLUmsG gilt § 175 Abs. 2 Satz 2 nicht für nachträgliche Bescheinigungen der anrechenbaren KSt bei vGA. Ansonsten könnten unbillige Ergebnisse ...