Tz. 3

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Normen sind üblicherweise konditional aufgebaut: Sind die Tatbestandsmerkmale erfüllt, tritt die in der Norm angeordnete Rechtsfolge ein. Bei einer Ermessensnorm führt die Erfüllung des Tatbestands grds. nicht zu lediglich einer einzigen Rechtsfolge. Vielmehr wird der Behörde in diesem Fall ein Handlungsspielraum auf Rechtsfolgenseite eingeräumt. Die Behörde kann mithin zwischen mehreren rechtmäßigen Entscheidungen die sachgerechtere bzw. zweckmäßigere wählen (BFH v. 26.07.1972, I R 158/71, BStBl II 1972, 919). Das Verhalten der Verwaltung ist durch das Gesetz nicht genau vorherbestimmt, sondern es besteht innerhalb gewisser Grenzen Gestaltungsfreiheit der Verwaltung. Diese Freiheit führt jedoch nicht zu einer Beliebigkeit oder Willkür der Verwaltung. Durch das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) kann das Ermessen nur die gesetzesakzessorische und gesetzesgelenkte Wahlfreiheit der Verwaltung bei der Rechtsfolgenbestimmung bezeichnen (BFH v. 18.09.1974, II B 11/74, BStBl II 1975, 41). Ein Ermessen auf Tatbestandsseite existiert dagegen nicht. Wann ein Tatbestand erfüllt ist, muss wegen des Bestimmtheitsgrundsatzes dem Gesetz zu entnehmen sein (s. § 3 AO Rz. 17) und unterliegt der uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle.

 

Tz. 4

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Der Verwaltung kann Entschließungs- und/oder Auswahlermessen eingeräumt sein. Kommt der Verwaltung Entschließungsermessen zu, so kann sie entscheiden, ob gehandelt wird. Dies ist nicht mit der unzulässigen Einräumung eines Tatbestandsermessens zu verwechseln. Auch wenn die Verwaltung im Rahmen des Entschließungsermessens tätig wird, muss der Tatbestand der Rechtsnorm erfüllt sein. Der Behörde ist lediglich die Entscheidung eingeräumt, ob sie daraufhin tätig wird oder nicht. Beispiele hierfür sind die Festsetzung eines Verspätungszuschlags (§ 152 Abs. 1 AO) oder die Inanspruchnahme des Haftungsschuldners. Grds. muss sie von dem eingeräumten Ermessen Gebrauch machen. Das bedeutet indessen nicht, dass die Finanzbehörde in jedem Fall tätig werden muss. Ist der Behörde durch eine Norm die Entscheidung übertragen, ob sie tätig wird oder nicht, so hat sie ihr Ermessen auch dann pflichtgemäß ausgeübt, wenn die Entscheidung getroffen wird, nicht zu handeln. Die Verwaltung ist jedoch immer verpflichtet, in eine Ermessensprüfung einzutreten. Mit dieser Pflicht korrespondiert ein subjektives öffentliches Rechts des Stpfl. auf Vornahme einer Ermessensprüfung.

 

Tz. 5

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Hat sich die Verwaltung zum Tätigwerden entschieden bzw. ist sie durch das Gesetz dazu verpflichtet, kann ihr ein Auswahlermessen zustehen. Hierunter wird die Entscheidung verstanden, wie die Behörde tätig wird, also gegen wen oder welches von mehreren ihr rechtmäßig zur Verfügung stehenden Mitteln sie verwendet, z. B. die Höhe des Verspätungszuschlags oder die Auswahl unter mehreren Gesamtschuldnern (§ 44 Abs. 1 Satz 1 AO), insbes. Haftungsschuldnern.

 

Tz. 6

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Ermessensakte stehen damit im Gegensatz zu den sog. gebundenen Verwaltungsakten, bei denen das Gesetz den Behörden keinen Gestaltungsspielraum lässt, sondern nur eine einzige rechtmäßige Rechtsfolge besteht. Der Regelungsinhalt des Verwaltungsakts ist daher eindeutig vorgezeichnet. Gebundene Verwaltungsakte können nur einen einzigen Regelungsinhalt aufweisen.

 

Tz. 7

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Die Einräumung eines Ermessensspielraums durch das Gesetz geschieht in unterschiedlicher Weise. Die ausdrückliche Aufforderung, nach pflichtgemäßem Ermessen zu handeln (z. B. § 86 Satz 1 AO), ist dabei die Ausnahme. Häufig werden sog. Kann-, Soll-, und Darf-Vorschriften verwendet. Kann-Vorschriften stellen i. d. R. das Tätigwerden in die pflichtgemäße Wahl der Finanzbehörde (z. B. §§ 27, 92, 93 Abs. 4 und 5 AO, §§ 94 Abs. 1, 95 Abs. 1 und 2 AO, §§ 97 Abs. 1 und 3, 109, 130 Abs. 1, 131, 148, 152 Abs. 1, 155 Abs. 2 und 3, 156 Abs. 1 und 2 AO, §§ 163, 165, 183 Abs. 1 und 3, 194 Abs. 1 und 2, 217, 222, 234 Abs. 2 AO, 258, 297, 360 Abs. 1 und 5 AO). Dies ist indessen nicht zwingend, wie die Vorschrift des § 227 AO nach der hier vertretenen Auffassung zeigt (s. Rz. 11 f.). Hierbei ist die Verwendung des Modalverbs "können" kein Ausdruck der Ermessenseinräumung, sondern begründet die Kompetenz der Finanzbehörde, ausnahmsweise unter Durchbrechung des Prinzips der Gleichmäßigkeit der Besteuerung von der Steuererhebung abzusehen (vgl. Wernsmann in HHSp, § 5 AO Rz. 94).

Im Gegensatz dazu geben Soll-Vorschriften eine Entscheidungsrichtung vor. Im Regelfall soll in einer bestimmten Art und Weise verfahren werden, Ausnahmen hiervon sind jedoch in atypischen Situationen möglich.

Vergleichbar mit Soll-Vorschriften ist auch die Einräumung des intendierten Ermessens. Im Fall des gelenkten bzw. intendierten Ermessens der Behörde ist eine ermessenseinräumende Vorschrift dahin auszulegen, dass sie für den Regelfall von einer Ermessensausübung in einem bestimmten Sinn bzw. in eine be...

Dieser Inhalt ist unter anderem im Kühn, Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung (Schäffer-Poeschel) enthalten. Sie wollen mehr?


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