Tz. 56
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Das Steuerrecht steht als staatliches Eingriffsrecht in engem Zusammenhang mit dem Verfassungsrecht, denn das Rechtsstaatsprinzip erfordert, dass Eingriffe in die Grundrechte der Bürger (Art. 1 bis 19 GG) verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein müssen. Dies gilt insbes. auch für das Steuerrecht, da jede Steuererhebung jedenfalls einen Eingriff in das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) darstellt (vgl. aber BVerfG v. 18.01.2006, 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97). Dies bedingt, dass dem von einem Eingriff betroffenen Bürger auch die Möglichkeit gegeben werden muss, eine verfassungsrechtliche Überprüfung zu erreichen, wenn der fachgerichtliche Rechtsschutz durch die FG ausgeschöpft ist oder diese die in einem Streitfall aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen nicht abschließend beantworten können. Demzufolge wird Steuerrechtsschutz durch das BVerfG gewährt, und zwar aufgrund der Initiative des Stpfl. (s. Rz. 57) als auch auf Initiative des FG oder BFH (s. Rz. 59 f.).
Tz. 57
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Entsprechendes gilt für das europäische Unionsrecht: Das primäre Europarecht (das Vertragsrecht) enthält nur wenige Regelungen für das Steuerrecht. Art. 113 AEUV regelt lediglich die Harmonisierung der indirekten Steuern (Khan in Geiger/Khan/Kotzur, Art. 113 AEUV, Rz. 5). Jedoch ist das nationale Steuerrecht der EU-Mitgliedstaaten insbes. durch die Grundfreiheiten des AEUV (Art. 45, 49, 56, 63 AEUV) auf vielfältige Weise beeinflusst (z. B. EuGH v. 12.12.2002, Rs. C-324/00 "Lankhorst-Hohorst", EuGHE I 2002, 11779; auch Bartone, Gesellschafterfremdfinanzierung, S. 106 ff.; Oppermann/Classen/Nettesheim, § 35 Rz. 8 ff. m. w. N.). Die Normen des nationalen Steuerrechts müssen – auch soweit sie die direkten Steuern betreffen – sich daher auch am europäischen Gemeinschaftsrecht messen lassen. Dazu bedarf es einer Möglichkeit zur gerichtlichen Überprüfung der Hoheitsakte, die von den EU-Organen ausgehen. Nach Art. 6 Abs. 1 EUV beruht die Europäische Union auch auf den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit. Zu deren Kernelement gehört – ebenso wie nach deutschem Rechtsverständnis – auch das Bestehen einer wirksamen Kontrollmöglichkeit gegenüber der gemeinschaftsrechtlichen Hoheitsgewalt (Calliess, NJW 2002, 3577). Daher hat auch der EuGH schon früh das Gebot des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes als allgemeinen Rechtsgrundsatz des europäischen Gemeinschaftsrechts (EuGH v. 23.04.1986, Rs 294/83 "Les Verts", EuGHE 1986, 3577; v. 23.03.1993, Rs. C-314/91, ABl. EG 1993, Nr. C 123, 10; hierzu Calliess, NJW 2002, 3577; Oppermann/Classen/Nettesheim, § 13 Rz. 2 ff.). Gewährt wird der europarechtliche Rechtsschutz durch den EuGH, dessen Aufgabe darin besteht, die Wahrung des Gemeinschaftsrechts bei der Auslegung und Anwendung des EUV und des AEUV zu sichern (Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV).
Tz. 57a
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wurde auch die EUGrCh verbindliches, unmittelbar geltendes EU-Recht, das dem primären Europarecht zuzuordnen ist (Art. 6 Abs. 1 EUV; vgl. Jarass, Einl EUGrCh, Rz. 4, 6 ff., Art. 51 EUGrCh Rz. 13; Sauer, § 8 Rz. 3). Die dort geregelten Grundrechte gelten u. a. für die EU-Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts ("implementing Union law" bzw. "mettent en œuvre le droit de l’Union", Art. 51 Abs. 1 Satz 1 EUGrCh), z. B. im Bereich des USt-Rechts. Im Hinblick auf Art. 53 EUGrCh dürften die Grundrechte aus Art. 1 ff. GG regelmäßig einen weitergehenden Schutz bewirken, sodass die europäischen Grundrechte im Einzelfall nur ausnahmsweise zum Tragen kommen dürften (vgl. auch Sauer, § 9 Rz. 56a).
Tz. 58
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Während im nationalen Verfassungsrecht und im Europarecht Möglichkeiten des Steuerrechtsschutzes verankert sind, gilt dies nicht in gleichem Maße für die EMRK. Insbes. Art. 6 Abs. 1 EMRK, der dem Einzelnen das Recht auf ein faires gerichtliches Verfahren gewährt und auch gegen überlange Gerichtsverfahren schützt, ist nicht auf rein steuerrechtliche Streitigkeiten anwendbar, denn die Vorschrift gilt nur für zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen ("civil rights and obligations"/"droits et obligations de caractère civil"; EGMR v. 12.07.2001, 44759/98 "Ferrazzini/Italien", NJW 2002, 3453; vgl. auch EGMR v. 16.03.2006, 77792/01, juris; EGMR v. 13.01.2005, 62023/00, EUGRZ 2005, 234; BFH v. 15.11.2006, XI B 17/06, BFH/NV 2007, 474; BFH v. 01.03.2016, I B 32/15, BFH/NV 2016, 1141; FG Ha v. 28.10.2010, 3 K 81/10, EFG 2011, 1082). Dabei ist aber zu beachten, dass die europäischen Grundrechte gem. Art. 52 Abs. 3 EUGrCh im Einklang mit der EMRK auszulegen sind (Jarass, Art. 52 EUGrCh Rz. 64; vgl. auch Art. 6 Abs. 3 EUV).