Tz. 10

Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018

Wer eine Frist bewusst und gewollt verstreichen lässt (z. B. weil er den befristeten Rechtsbehelf für aussichtslos hält), handelt nicht unverschuldet. Ein eventueller Irrtum über den Beweggrund (das Motiv) für diese vorsätzliche Fristversäumnis ist unbeachtlich. Ein Rechtsirrtum kann für die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur dann relevant sein, wenn er sich nicht auf die Zweckmäßigkeit, insbes. die Erfolgsaussicht der befristeten Handlung, sondern auf die Frist selbst (BFH v. 22.05.2006, VI R 46/04, BFH/NV 2007, 1), insbes. über die Unkenntnis einer Frist (BFH v. 29.08.2017, VIII R 33/15, BStBl II 2018, 69) oder auf die Form der Fristwahrung bezieht (st. Rspr., s. z. B. BFH 14.07.1989, III R 54/84, BStBl II 1989, 1024). Ein Irrtum über das Wesen einer bekannten Ausschlussfrist oder über das materielle Recht (die Erfolgsaussichten) rechtfertigen die Wiedereinsetzung nicht. Damit kann Wiedereinsetzung zumeist selbst dann nicht gewährt werden, wenn der Betroffene die Frist deshalb verstreichen lässt, weil die Finanzbehörde durch eine falsche Auskunft (Rechtsbelehrung) über die Erfolgsaussichten die Überlegungen des Betroffenen beeinflusst hat. Dafür spricht, dass anderenfalls jedem Rechtsunkundigen, der im Vertrauen auf die Richtigkeit und Rechtmäßigkeit des Handelns der rechtskundigen Hoheitsbehörde Fristen verstreichen lässt, Wiedereinsetzung gewährt werden müsste (allgemein zur Frage der Möglichkeit der Wiedereinsetzung bei Irrtum über die materielle Rechtslage Brandis in Tipke/Kruse, § 110 AO Rz. 14). Angesichts der Forderung des BVerfG (s. Rz. 2), die Anforderungen an eine Wiedereinsetzung nicht zu überspannen, sind jedoch auch konkrete Einzelfälle denkbar, in denen der Rechtsirrtum durch ein Verhalten der FinVerw entstanden ist, das ein schützenswertes Vertrauen begründet und ein Verschulden ausschließt. (BFH v. 29.07.2003, III B 129/02, BFH/NV 2003, 1610). Zudem können nach dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben z. B. Auswirkungen auf den Fristbeginn bzw. den Fristablauf denkbar sein. Im Zweifel stellt jedoch der Weg über eine Wiedereinsetzung die sachgerechtere Lösung dar.

Dieser Inhalt ist unter anderem im Kühn, Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung (Schäffer-Poeschel) enthalten. Sie wollen mehr?