Tz. 16
Stand: 22. Auflage – ET: 10/2018
Die Ausführungen zu § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO gelten entsprechend, wenn ein oberster Gerichtshof des Bundes eine Rechtsnorm, auf der die bisherige Steuerfestsetzung beruht, für verfassungswidrig hält (und sei es auch wegen fehlender Ermächtigungsgrundlage) und deswegen nicht anwendet (§ 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO). Diese Norm gilt nicht für förmliche nachkonstitutionelle Bundesgesetze, da insoweit – wie sich aus Art. 100 Abs. 1 GG ergibt – das Verwerfungsmonopol ausschließlich beim BVerfG liegt (s. Rz. 12 f.). Denn im Hinblick auf Art. 20 Abs. 3, 100 Abs. 1 GG ist kein Gericht befugt, ein förmliches nachkonstitutionelles Bundesgesetz wegen erkannter oder vermeintlicher Verfassungswidrigkeit unangewendet zu lassen. Vielmehr sind die Gerichte in diesem Fall verpflichtet, eine Vorlage gem. Art. 100 Abs. 1 GG an das BVerfG zu machen. Oberste Gerichtshöfe des Bundes sind, neben dem BFH, das BVerwG, der BGH, das BSG und das BAG (Art. 95 Abs. 1 GG) sowie der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes (Art. 95 Abs. 3 GG), nicht aber der EuGH (ebenso Loose in Tipke/Kruse, § 176 AO Rz. 13; von Wedelstädt in Gosch, § 176 AO Rz. 24). Allerdings ist § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO auf Entscheidungen des EuGH entsprechend anwendbar (vgl. Bartone in Bartone/von Wedelstädt, Rz. 1570; Koenig in Koenig, § 176 AO Rz. 21; a. A. Loose in Tipke/Kruse, § 176 AO Rz. 13; von Wedelstädt in Gosch, § 176 AO Rz. 24). Rechtsnormen i. S. des § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO sind im Hinblick auf das Verwerfungsmonopol des BVerfG v. a. Rechtsnormen unterhalb des Ranges des förmlichen Gesetzes wie Rechtsverordnungen des Bundes (Art. 80 Abs. 1 GG) oder eines Landes und Satzungen (von Wedelstädt in Gosch, § 176 AO Rz. 25). Erfasst sind grds. auch vorkonstitutionelle förmliche Gesetze, jedoch dürfte dies in der Praxis nahezu 70 Jahre nach Inkrafttreten des GG keine Relevanz mehr haben. Für die Anwendung des § 176 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist es nicht erforderlich, dass die Norm verfassungswidrig ist (BFH v. 02.11.1989, V R 56/84, BStBl II 1990, 253), es muss sich aus der Rspr. des betreffenden Gerichts ergeben, dass es von der Verfassungswidrigkeit überzeugt ist (von Wedelstädt, AO-StB 2010, 303).